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Nach Amoklauf in Lörrach Das Web spottet

Kollektive Trauer? Anteilnahme? Im Netz: Fehlanzeige! Nach dem Amoklauf in Lörrach wettern Deutschlands User auf Twitter gegen die Sinnlosigkeit von Killerspielverboten. Ohne Rücksicht auf die Opfer der Tragödie.
Von Felix Disselhoff

Ob Winnenden vor einem Jahr oder Lörrach am gestrigen Abend. Beide Amokläufe zeigten nur zu deutlich: Die Netzgemeinde hat ihre ganz eigenen Regeln, mit solch dramatischen Ereignissen umzugehen. Während Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech (CDU) sich bestürzt über den zweiten Amoklauf in seinem Bundesland in nur zwei Jahren zeigt, gibt sich das Web recht zynisch. Vor einem Jahr war innerhalb weniger Stunden die Identität des mutmaßlichen Amokläufers in Netzwerken wie Twitter ohne Rücksicht auf Verluste im Umlauf. Jetzt lassen User die Politik spüren, für wie sinnlos sie die Killerpieldebatte halten.

Keine Killerspiel-Spielerin

Genug Futter für so viel Häme liefert die Biographie der Amokläuferin. Sie ist 41, Anwältin und eine Mutter. Und will damit so gar nicht in das Klischee eines jungen Einzelgängers passen, dessen Moral durch exzessives Spielen gelitten hat. Amokläufe von männlichen Teenagern, wie zuletzt von Tim K. im baden-württembergischen Winnenden, befeuerten immer wieder die Debatte um ein Verbot von Killerspielen und deren Einfluss auf die Gewaltbereitschaft junger Menschen. Dass jetzt eine mitten im Leben stehende Anwältin mehreren Menschen das Leben nimmt, bevor sie selbst erschossen wird, gibt erstmalig in Deutschland den Gegnern der Killerspieldebatte ein Argument an die Hand.

Die Häme der User trifft vor allem den CDU-Politiker Wolfgang Bosbach. Der Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestages hatte sich nach dem Amoklauf von Winnenden für ein Verbot von Paintballspielen eingesetzt. Ein Tweet von User “Zyneasthesie”, der mittlerweile schon mehrere hundert Male retweeted wurde, lautet: “Die Amokläuferin von Lörrach: heterosexuell, verheiratet, katholisch, Juristin. Bosbach weiß noch nicht so richtig, was er verbieten will.” User Herrurbach setzt nach: “Tragischer Amoklauf in Lörrach - die Anwältin hat bestimmt Egoshooter gespielt “ Und “Farlion” frotzelt im Stil eines Nachrichten-Tickers: “+++ Vermutlich Amoklauf in Lörrach. +++ Täter eine Frau. +++ Spielte wahrscheinlich Killerspiel "Hello Kitty Online"+++.”

Was Kachelmann und die Amokläuferin gemein haben

User “Schlenzalot” scheint, mit sarkastischem Unterton, eine Erklärung für die Tat gefunden zu haben und zieht gleich Parallelen zum angeklagten TV-Moderator Jörg Kachelmann: “In Lörrach wurden auch Jörg Kachelmann und Sebastian Deisler geboren, dort weiß man, wie man mit "leichten Störungen" in die Presse kommt.”

Ob, wie von “Zyneasthesie” behauptet, die Täterin verheiratet und heterosexuell war und ob sie katholischen Glaubens ist, stand zum Zeitpunkt des ersten Tweets noch gar nicht fest. Trotzdem verbreiteten sich die 138 Zeichen rasant. Damit wird einmal mehr deutlich, wie Kommunikation über Dienste wie Twitter, Facebook und Co. funktioniert: schnell.

Das Problem ist wieder einmal nicht die Nachricht, sondern wie mit ihr umgegangen wird. Ausgebildete Journalisten sind darin geschult, sensibel mit Daten von Personen umzugehen und Fakten zu recherchieren. Bei Twitter hingegen steht die Meinung schnell fest. Der Pressekodex gilt nun einmal nur für die Presse. Und nicht für ein Medium, welches von vielen fälschlicherweise als die Zukunft des Journalismus betrachtet wird. Nur vergleichweise wenige User teilen Neuigkeiten über den Tathergang mit anderen Usern. Zynische Statements überwiegen. So fordert MelmachAsylant: “Die Lehre aus Lörrach und Winnenden: #Baden-Württemberg verbieten / den Franzosen zum Kauf anbieten.”

So funktioniert das Web nur allzu oft. Aus einer einzelnen Meldung wird eine Lawine, die den Wahrheitsgehalt und das menschliche Drama oft unter sich begräbt.

Anmerkung der Redaktion am 22. September

Dieser Text hat im Netz viele Reaktionen ausgelöst, er hat auch viel Kritik hervorgerufen, weil wir vermeintlich zu hart mit Twitter und den Twitterern umgehen. Das finden wir nicht, wir stehen zu unserer Analyse. Allerdings hat Till Achinger uns in seinem Blog achinger.com darauf aufmerksam gemacht, dass zwei Passagen dieses Textes so ähnlich vor einem Jahr schon einmal auf stern.de erschienen sind - in dem Text von stern.de-Redakteur Gerd Blank. Diese Transparenz hilft sicher, auch wenn die Tatsache, dass wir Argumente wiederholen, ihnen nichts von ihrer Bedeutung nehmen .

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