Millionen Tode, ein Leben: Claude Lanzmanns Memoiren

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Die wichtigsten Memoiren dieses Herbstes: „Shoah“-Regisseur Claude Lanzmann über sein Leben, in dem er Simone de Beauvoir liebte und Judenmörder zum Sprechen brachte. Zur Ehrlichkeit der Erinnerung.

Hätte er einen von der SS heimlich gedrehten Stummfilm gefunden, der den Tod von 3000 Menschen in einer Gaskammer gezeigt hätte, er hätte diesen Film nicht gezeigt, ja, mehr noch – er hätte ihn zerstört: Mit dieser Behauptung provozierte der Franzose Claude Lanzmann, als Europa in den Neunzigerjahren den Film Schindlers Liste feierte.

Lanzmanns 1985 beendeter Film Shoahenthält kein einziges Bild aus den Vernichtungslagern. Elf Jahre lang ist Lanzmann durch Europa gereist, um Augenzeugen der Judenvernichtung aufzuspüren und zu befragen, darunter ehemalige SS-Männer und Angehörige der „Sonderkommandos“ aus jüdischen Häftlingen, die bei der Ermordung ihrer Mitgefangenen helfen mussten. Ohne eine einzige Leiche zu zeigen, verdient Shoahden Titel „Das Gedächtnis des Grauens“, den ihm Simone de Beauvoir gegeben hat. Was für ein Mensch unternimmt so etwas – und hält durch? Das versteht besser, wer die Memoiren des 84-Jährigen liest, die im September unter dem Titel „Der patagonische Hase“ auf Deutsch erscheinen werden. Durchwegs sympathisch ist er ja nicht, dieser vorsichtig ausgedrückt sehr selbstbewusste Herr mit dem apodiktischen Gehabe eines Unfehlbaren („Sartre ist der größte französische Schriftsteller“ etc.). Aber so viel sturen, aggressiven Narzissmus brauchte es wohl auch, um diese Aufgabe gegen alle Schwierigkeiten und Widerstände zu Ende zu führen.

Abenteuerliche Erinnerungen

Was für eine Aufgabe – und was für ein Leben! Mehrere Romane wären mit dem abenteuerlichen, vor interessanten Details strotzenden Material dieser Erinnerungen zu füllen. Wie der Enkel osteuropäischer Juden, den von früh an Bilder von Todesstrafen verfolgen („Die Guillotine war die große Angelegenheit meines Lebens“), im Lyzeum eine Résistance-Zelle aufbaute, dann als Partisan kämpfte, wie er gleich nach Kriegsende in Deutschland Philosophie studierte, sich mit Gilles Deleuze und Michel Tournier anfreundete, wie er die Zeit mit Simone de Beauvoir erlebte, mit der er in den Fünfzigerjahren sieben Jahre lang liiert war, und wie das merkwürdige Trio Beauvoir/Lanzmann/Sartre funktionierte (Lanzmann war lange Mitarbeiter und -herausgeber der von Sartre gegründeten Zeitschrift „Les Temps Modernes“).

Als ein hoher israelischer Beamter ihn anregt, einen Film zu machen, der nicht nur die Shoah zeigen, sondern „die Shoah sein“ sollte, lässt sich Lanzmann auf das Ungeheuerliche ein. Die Gespräche mit Überlebenden genügen ihm nicht – „das Wesentliche fehlte: die Gaskammern, der Tod in den Gaskammern, aus denen keiner zurückgekehrt war, um eine Vorstellung davon zu vermitteln. An dem Tag, an dem ich das begriff, wusste ich, dass das Thema meines Films der Tod selbst sein würde, nicht das Überleben, ein radikaler Widerspruch in sich, weil er in gewissem Sinn die Unmöglichkeit dieses Unterfangens demonstrierte... Mein Film musste die äußerste Herausforderung annehmen: die nicht existierenden Bilder vom Tod in den Gaskammern zu ersetzen.“

Um dahin zu kommen, bedient sich Lanzmann aller Mittel. In „Der patagonische Hase“ verrät er, mit welchen Finten er Franz Suchomel, den ehemaligen SS-Unterscharführer in Treblinka, dazu gebracht hat, vor versteckter Kamera in allen Details von der Mordmaschinerie in Treblinka zu erzählen. Er berichtet, wie er nach Überlebenden des Sonderkommandos in Auschwitz gesucht und den „Friseur von Treblinka“ gefunden hat, der den Frauen noch im Inneren der Gaskammern die Haare zu schneiden hatte. Und rekapituliert jede Minute dieses Drehs, an dessen Ende der „Friseur“ förmlich um Gnade gebettelt hat, um nicht weitersprechen zu müssen. Sadismus hätten ihm einige vorgeworfen, erzählt Lanzmann, er halte diese Szene ganz im Gegenteil für „das Paradigma der Pietät, die nicht darin besteht, sich angesichts des Schmerzes auf Zehenspitzen zu entfernen, sondern zuallererst darin, die Wahrheit zu suchen und weiterzugeben“.

Gerade mit der Wahrheit nehme Lanzmann es in seinen Memoiren nicht so genau, behauptete 2009 nach Erscheinen des französischen Originals der freie Publizist Christian Welzbacher. (Er stieß sich an einem Detail: Lanzmann schreibt, ein Artikel, den er 1950 in Ostberlin veröffentlichte, habe zum Rücktritt des damaligen Rektors der Freien Universität Berlin Erwin Redslob geführt – stimmt nicht, weist Welzbacher nach.) Aber wer Autobiografien als Tatsachenberichte liest, ist selbst schuld.

Die alte Angst: Feige zu sterben

Ehrlichkeit der Erinnerung hat andere Maßstäbe. Die zeigen sich in „Der patagonische Hase“ vor allem dann, wenn der sehr alte Lanzmann über den sehr jungen Lanzmann nachdenkt. Als seine Mutter, die mit ihren ausgeprägten Gesichtszügen gleich als Jüdin erkennbar gewesen sei, einmal im Schuhgeschäft den Verkäufern eine Szene machte, sei er vor Scham weggelaufen. „Ich habe mich an diesem Nachmittag wie ein echter Antisemit aufgeführt, in seiner schlimmsten Variante, dem antisemitischen Juden.“

Lanzmann, dem beim Gedanken an die Geschwister Scholl immer noch die Tränen kommen, spricht auch freimütig über eine alte Angst: feige zu sterben. Er habe sich in der Résistance zwar in Todesgefahr begeben, aber nicht mit vollem Bewusstsein, sagt er, und habe sich immer wieder gefragt, wie er sich unter Folter verhalten hätte. Diese Sorge habe sein Leben vergiftet, das er so maßlos geliebt habe. „Die Frage von Mut und Feigheit ist der rote Faden dieses Buches, der rote Faden meines Lebens.“

zur person

Claude Lanzmann (*1925) gilt als einer der bedeutendsten Dokumentarfilmer. Der Enkel osteuropäischer Juden engagierte sich während des Weltkriegs in der Résistance, studierte dann Philosophie in Deutschland. Wieder in Frankreich, machte er sich als Journalist einen Namen. Erst 1970 wandte er sich dem Filmschaffen zu, sein Werk kreist um Israel und die jüdische Identität. Seine epische Dokumentation „Shoah“ (1985) ist einer der wichtigsten Filme zum Holocaust.

Lanzmanns Memoiren „Der Hase von Patagonien“ erschienen 2009 in Frankreich, die deutsche Übersetzung kommt im Herbst.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2010)

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