Ein solidarischer Solitär

Der grosse Schweizer Künstler Gottfried Honegger war ein «homme engagé». Nun ist er nach einem Sturz im hohen Alter von 98 Jahren verstorben.

Guido Magnaguagno
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Gottfried Honegger in seinem Zürcher Atelier im Mai 2012, wenige Tage vor seinem 95. Geburtstag. (Bild: Steffen Schmidt / Keystone)

Gottfried Honegger in seinem Zürcher Atelier im Mai 2012, wenige Tage vor seinem 95. Geburtstag. (Bild: Steffen Schmidt / Keystone)

«Die Kunst ist ein Tagtraum», hat er noch auf dem Spitalbett proklamiert. Aber Gottfried Honegger war kein Phantast, er war ein Kämpfer. Sein ganzes Kunstleben lang verkörperte er das, was man in früheren Zeiten einen «homme engagé» nannte. Zu seinem 95. Geburtstag ist eine Autobiografie erschienen mit dem lapidaren, programmatischen Titel «34699» – die Summe der bis anhin gelebten Tage. Nochmals tausend sind hinzugekommen. Aber jetzt ist ausgezählt – Gottfried Honegger ist am 17. Januar nach einem Sturz im hohen Alter von 98 Jahren verstorben.

Zürich und Sent

1917, im Jahr des Generalstreiks, in Zürich geboren, im Jahr auch, als der Lehrling Richard Paul Lohse in der «Eintracht» Picabias Zeitschrift «391» setzte, war er seiner Stadt in einer Art von Hassliebe verbunden. Noch in seiner unvergesslichen Geburtstagsrede im vollen Zürcher Volkshaus feierte er das Revier seiner Kindheit und Jugend, von den samstäglichen Baderitualen bis zu seiner Lehrzeit als Dekorateur am St. Annahof, wo er dem Genossenschaftsgedanken begegnete und ihn nie mehr aufgab.

Genossenschaftlichkeit, oder vielmehr Geselligkeit, hat er in anderer Weise mütterlicherseits im Dorfleben von Sent im Unterengadin erfahren, seiner innersten «Heimat», im bäurischen Umfeld seiner Mutter Georgina Margadant. Mit ihr verehrte er die Sinnlichkeit der «terra ladina» bis hin zur Malerei von Giovanni Segantini, seiner ersten Berührung mit grosser Kunst. Aber immer hat er auch auf die Engadiner Volkskunst hingewiesen, die Tür- und Fensterbogen, die Stoffmuster oder auch die Schuppenstruktur der Tannzapfen – Formen, welche den Übergang von seiner Freizeitmalerei zu seiner spezifischen Abstraktion markieren.

Ab 1938 betrieb der Kunstgewerbeschüler erfolgreich ein Atelier für Grafik, Dekoration und Fotografie mit Warja Lavater, der Mutter seiner Kinder Bettina und Cornelia, die auch in seine gestalterischen Fussstapfen treten sollten. Mit Warja gestaltete er die Abteilung Wirtschaft für die «Landi», für Konrad Farner die Helmhaus-Ausstellung «100 Jahre Bundesstaat», für Georg Schmidt in Basel «Naturwissenschaft und Kunst», was zu einer Anstellung bei Geigy und zwei Jahren New York führte. Im von Honegger mitbegründeten «Club zur Schifflände», wo jedes Mitglied über einen Schlüssel verfügte, traten seine Freunde Emil Oprecht und Max Frisch auf, aber auch Kunst-Kapazitäten wie Alfred Barr und Herbert Read. Zürich stand für Grafik, für intellektuelle Gespräche, für kulturpolitische Einmischung, bis zum 68er «Zürcher Manifest», was den Künstler wohl erstmals ausserhalb seines Kreises umstritten machte, aber auch seine furchtlose Gradlinigkeit auswies.

Sent steht für Malerei und Skulptur – und für die honeggersche Erfindung, das «tableau relief». Zwischen 1953 und 1958 malte er im Keller an der Kirchgasse an seinem weithin unbekannt gebliebenen, immensen Frühwerk. Die mit dem Biologen und Philosophen Adolf Portmann entwickelte Ausstellung «Naturform und Kunstform» ist paradigmatisch. Honeggers Weg in die Abstraktion beruht auf den Gesetzen und formalen Strukturen der Natur. Erst in New York kommen Mathematik und Geometrie ins Spiel, und der Mut zum ersten monochromen Bild. Er kennt jetzt Sam Francis, Al Held und Marc Rothko – und die Ausstellung bei Martha Jackson ist beinahe ausverkauft.

Trotzdem zieht er 1960 nach Paris, seiner dritten Heimat, seiner Wahlheimat. Hier bestückt er gotische Kathedralen mit Glasfenstern, hier erhält er sämtliche Auszeichnungen inklusive der Aufnahme in die Ehrenlegion. Er verkehrt mit Jack Lang und den nachfolgenden Kulturministern, mit Michel Seuphor und allen wichtigen Museumsdirektoren. Er lernt die französische Spielart «konkreter» Kunst kennen, mit Aurélie Nemours, Marcelle Cahn oder François Morellet, und emanzipiert sich so vom dogmatischen Korsett der «Zürcher Konkreten». Er liebt den weiten Himmel über dem Jardin du Luxembourg, sein Studio im Marais und Sybil Albers, seine Lebensgefährtin, mit der er eine bedeutende Sammlung konstruktiver Kunst mit dem Spezialgebiet Monochromie aufbaut.

Triumph im Centre Pompidou

Als Zürich diese Sammlung als Geschenk ablehnt, was ihn berechtigterweise verbittert, gründen die beiden mit der Hilfe von Jack Lang in Mouans-Sartoux den Espace de l'art concret, zuerst im Schloss, dann in einem wunderbar lichtvollen Neubau von Gigon/Guyer. Zusätzlich mit einem Malatelier für Kinder und Behinderte, mit der Entwicklung eines «viseurs», einer offenen Gestaltungsanleitung für Schüler, realisiert er eine Idee mit ziemlicher Nachhaltigkeit im Hinterland des glamourösen Cannes. Typisch Honegger: ein solidarischer Solitär, sein Vermächtnis.

Sein eigenes Werk strahlte im vergangenen Sommer im Centre Pompidou. Die Ausstellung versammelte Werke von 1939, einem ersten Pariser «séjour», bis zur jüngsten Werkgruppe von 2015. Denn Honegger liess keinen der nunmehr über sechsunddreissigtausend Tage aus, um nicht frühmorgens an einer neuen Serie zeichnend die unendlich scheinenden Spielarten der Mathematik und Geometrie auszukundschaften. Beim Atelier-Eingang hing ein kleiner, aber trotzdem unübersehbarer Satz von Pythagoras: «Wer kein Geometer ist, der trete nicht ein.» Wer es trotzdem wagte, traf auf einen versöhnten, weisen Herrn , der nur noch an die Kraft der reinen Schönheit glaubte. All seine Polemiken, die er auch in vielen Episteln kundtat, hatten einer heiteren Souveränität und einem feinen Humor Platz gemacht. Er war froh, nie ein «Ich»-Maler gewesen zu sein.

Denken und Sehen

Gottfried Honegger hat unserer Gesellschaft seine «tableaux reliefs» geschenkt, eine Kunstform in der Mittelzone zwischen Malerei und Skulptur, zuletzt auch Architektur, zwischen Fläche und realem Raum. Vermittlung auch zwischen Kunstwelt und Lebenswelt, zwischen Denken und Sehen. Die Schichten eines «tableau relief» verbinden die Gesetze der Mathematik – wie jene seiner stupenden Computerzeichnungen von 1975 – mit den gewürfelten Zufallskonstellationen, die strenge Klarheit mit den Freuden der Unregelmässigkeit. Sie künden von der stillen Meditation, die dreissig Farbaufträge auf aufgeleimten Kartons über einer gespannten Leinwand zeitigen. Oder Bleistiftspuren über den geometrischen Rastern von Quadrat, Kreis und Rechteck.

Die Kunst sei ein Tagtraum. Gottfried Honegger hatte eine Mission. Er glaubte an Veränderung, an eine bessere Zukunft. Seine Visionen haben Gebrauchswert. Sie werden weiterhin hineinwirken in eine zu gestaltende, gestaltbare Welt. Die Botschaft ist so ehrlich wie die buntfarbigen «pliages»: aus simplen Röhren geschnittene und entfaltete Metallkörper, am besten Standort – inmitten der Natur. Nie werde ich übrigens vergessen, wie er vor seinem Atelierhaus in Gockhausen dem Studenten ein Mittagessen auf einer Tischplatte bereitete, die auf zwei Holzböcken balancierte und die er mit Packpapier bespannte.

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