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Die gefährliche Entwertung des deutschen Abiturs

Es wird immer leichter, gute Noten zu bekommen. Lehrer, Forscher und sogar Schüler sehen den Trend mit großer Sorge. Die Suche nach dem Wert der Hochschulreife offenbart eine gefährliche Entwicklung.

Er hatte richtig lange gelernt. Das Buch genau gelesen, mit einem Nachhilfelehrer den Text seziert, „Die Entdeckung der Currywurst“ von Uwe Timm. Am Ende konnte der Zehntklässler den Roman fast auswendig. Dann, vor ein paar Wochen, kam der Tag der Deutsch-Prüfung. Man nennt diesen Test, den alle Hamburger Gymnasiasten in der zehnten Klasse in den Kernfächern schreiben, auch „Mini-Abitur“. Da geht es um etwas.

Die Noten fließen zu einem beträchtlichen Teil ins Zeugnis ein. Die Gymnasien vergleichen ihre Ergebnisse. „Wir fragten uns nach dem Test, warum wir das Scheißbuch überhaupt gelesen haben“, sagt der 18-Jährige, der seinen Vornamen lieber nicht nennen will. Seiner Mutter wegen. Denn Frau Kirsch kennt in Hamburg jeder; zumindest jeder, der sich für das Abitur interessiert. Denn gegen die Reifeprüfung in ihrer jetzigen Form engagiert sich seine Mutter mit Verve.

In seiner Klasse gab es beim „Mini-Abi“ keine einzige Fünf, nur ein paar Vieren. Eine Sechs ist schon lange nicht mehr verteilt worden. Der Rest war gut, besser, sehr gut. „Viele der Antworten ergaben sich aus den Fragen oder den vorliegenden Texten. Man musste sie nur genau genug analysieren“, sagt er. Der blonde Schüler blinzelt in die Sonne und redet sich in Rage. Seine Hände wandern auf dem hölzernen Gartentisch hin und her. Als würde er Bausteine aufeinanderschichten, die alle schon vor ihm liegen.

Mareile Kirsch engagiert sich seit bald zehn Jahren in Hamburgs Schulpolitik. Die Abiturnoten sind ihrer Meinung nach nur noch „Nullaussagen“
Mareile Kirsch engagiert sich seit bald zehn Jahren in Hamburgs Schulpolitik. Die Abiturnoten sind ihrer Meinung nach nur noch „Nullaussagen“
Quelle: Johannes Arlt

„Ich kenne viele, die das Buch gar nicht gelesen haben. Die sind durchgekommen. Und nicht schlecht.“ Er ärgert sich. Als hätte er seine Lebenszeit mit etwas Sinnlosem verschwendet. Lieber wäre er Skateboardfahren gegangen. So sei das längst auch beim richtigen Abitur, sagt Mareile Kirsch. „Massenhaft gibt es beste Ergebnisse.“ Noten? „Ach, das sind doch Nullaussagen.“

Zahl der Gymnasiasten wächst

Das Abitur ist heute leichter als früher. Es wird einem geschenkt, es ist nicht mehr so viel wert wie noch vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren. Das klingt nach einem Klischee. Nach der Klage einer ehrgeizigen, bildungsbürgerlich orientierten Mutter, deren Generation – anders als ihre Eltern – das Abitur in großer Zahl selbst einmal geschrieben hat. Und die heute mit früher vergleichen kann. Doch ganz so einfach ist es nicht.

Es gibt weit mehr als die Erzählungen eines Schülers und die Wut seiner Mutter, die den Niveauverlust des Abiturs belegen können. An den Schulen, die das Abitur anbieten – den beruflichen Schulen, den Gemeinschafts- oder Gesamtschulen und dem Gymnasium – hat sich tatsächlich etwas verändert. Zum Besseren? Ja, aber nur, wenn es um immer bessere Noten geht.

Das Abitur ist der begehrteste Abschluss in Deutschland. Das Gymnasium die beliebteste Schulform. Zwar nimmt die Zahl aller Schulen ab, weil die Zahl der Schüler zurückgeht. Doch die Schulen, die das Abitur anbieten, wachsen noch. Vor allem Gymnasiasten gibt es immer mehr. Ihr Anteil an allen Schülern stieg von 30,7 auf 34,4 Prozent innerhalb eines Jahrzehnts. Vor 40 Jahren ging nicht mal ein Zehntel eines Jahrgangs aufs Gymnasium. In den Stadtstaaten, in großen Städten, aber auch in einem Land wie Nordrhein-Westfalen mit seinen 17 Millionen Einwohnern ist es heute dagegen mehr als die Hälfte.

Reglementierung der Schulwahl ist verpönt

Den Schülern selbst bereitet die Entwicklung Sorgen. Anfang Juni kritisiert die bayerische Schüler Union in einem Konzept, das sich mit dem acht- und neunjährigen Gymnasium beschäftigt, dass sich die Zahl der Gymnasiasten in „ungesunde Höhen“ entwickle: „Es ist nicht Ziel des Gymnasiums, es allen so einfach wie möglich zu machen und zum Abitur durchzuschleusen, sondern zur Hochschulreife zu führen.“ Sie fordern: „Übertritt aufs Gymnasium verschärfen“.

Doch es wird kaum möglich sein, den Drang zum Abi zu brechen. Allein schon so eine Forderung auszusprechen – das verbietet sich eigentlich. Politisch ist die Reglementierung der Wahl der Schulart verpönt. Nur noch in Bayern und in Sachsen können die Lehrer den Eltern mehr oder weniger vorschreiben, wohin ihr Kind gehen soll. Ansonsten zählt der Wille der Eltern. Und der ist nun mal: Mein Kind soll auf jeden Fall Abitur machen.

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Dabei sind es längst nicht mehr nur die akademisch gebildeten Eltern, die von der Abi-Feier ihrer Kinder träumen. Das Wort „Abitur“ hat auch in solchen Familien einen guten Klang bekommen, die im vermeintlich falschen Stadtteil wohnen oder Geringverdiener sind. Kinder aus diesen Gruppen streben häufiger als früher aufs Gymnasium. In einer aktuellen Studie, die die Fraktionsvorsitzenden von CDU und CSU in Auftrag gegeben haben, sprachen sich die Befragten mit Haupt- oder Volksschulabschluss am deutlichsten (95,5 Prozent) für den Erhalt des Gymnasiums aus. Das Beste ist gerade gut genug. Aufstieg und Wohlstand erreicht man durch Bildung.

Jörg Dräger von der Bertelsmann-Stiftung meint: „Der Anspruch an Fairness kann auch eine Noteninflation auslösen“
Jörg Dräger von der Bertelsmann-Stiftung meint: „Der Anspruch an Fairness kann auch eine Noteninflation auslösen“
Quelle: picture alliance / dpa

Und selbst jene Eltern, die das Gymnasium noch für eine Zusammenrottung von Eliten-Sprösslingen halten, müssen nicht verzichten. Indem die Politik seit Jahren Gemeinschafts- und Gesamtschulen fördert, die zum Abitur führen, baut sie gefühlte Hürden ab. Ein sozialpolitischer Fortschritt. Die Abiturientenschaft war noch nie so bunt wie heute – das gilt auch für ihre Leistungsfähigkeit. Jörg Dräger, ehemals Hamburger Wissenschaftssenator und jetzt im Vorstand der in der Bildungspolitik einflussreichen Bertelsmann-Stiftung, beschreibt die Folgen so: „Der Anspruch an Fairness kann auch eine Noteninflation auslösen. Wenn die Schwächsten noch eine Vier bekommen sollen, muss man allen anderen eben entsprechend bessere Zensuren geben, damit das Verhältnis gewahrt bleibt.“

Denn durch die immer größere und heterogenere Schülerschaft steige die Leistungsbandbreite. Und so werden Noten jenseits der Vier immer seltener. Doch die wachsende, vielfältige Schülerschaft ist bei Weitem nicht der einzige Grund, warum es immer einfacher wird, im Abitur gute Noten zu bekommen.

Eltern kämpfen gegen Abitur nach acht Jahren

Mareile Kirsch beugt sich über einen Zaun, hinter dem fünf grauschwarze Hühner picken, und wirft Mais hinein. Die ländliche Szene überrascht in dieser Gegend nahe der Elbe, wo Villen die Straßen säumen. Das Haus der Kirschs beherbergte dagegen früher den Kutscher der besseren Gesellschaft. „Mein Sohn hat sich die Hühner gewünscht. Wir hatten auch einen Zwerghahn, aber den hat der Marder geholt.“ Die Hühner sind geblieben, um Eier zu legen. Nicht nur, um hübsch auszusehen.

„Ich werde als Nostalgikerin, als Romantikerin bezeichnet, weil ich mich für ein qualitätsvolles Abitur und die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium einsetze. Wenn dann jemand diese Landwirtschaft sieht, kann ich gegen den Eindruck gar nichts mehr machen.“ Sie lacht. Nein, eine Öko sei sie nicht, auch wenn man das nach einem Blick in ihren übervollen, bunten Kreativraum – ihr Arbeitszimmer – vielleicht annehmen könnte.

Als in Hamburg vor rund zehn Jahren das achtjährige Gymnasium eingeführt wurde, fühlte sich die gelernte Journalistin gefordert. Die neue Schulform wirkte auf sie unausgegoren, schien die Kinder zu überfordern, vom falschen Geist beherrscht. „Alles wurde einem Nützlichkeitsprinzip untergeordnet. Die gute Zensur wurde wichtiger als die Qualität der Bildung.“

Es ist eine Klage, die in vielen Bundesländern in jenen Jahren zu hören war. Das ist bis heute so geblieben. Viele Eltern haben nie ihren Frieden mit der Umstellung gemacht, im Gegenteil. Initiativen dagegen haben sich formiert. Mittlerweile hören die Regierungen auf sie. Niedersachsen kehrt komplett zum neunjährigen Gymnasium zurück. Die meisten Schulen in Hessen sind umgeschwenkt, viele in Schleswig-Holstein, einige in Baden-Württemberg. Bayern steht wohl ein Volksentscheid zu der Frage bevor.

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Vor zehn Jahren aber wollte die Politik partout nicht hören. Nirgendwo. Mareile Kirsch trat in die Hamburger CDU ein. „Ich dachte, in der Regierungspartei könnte man etwas bewegen, mitgestalten. Ich wurde dafür von den langjährigen Mitgliedern verhöhnt. Die Idee, dass Schüler mehr Zeit für Reifung brauchen, war nicht in die Köpfe dieser Kaufmannsstadt zu bekommen.“

2008 trat sie wieder aus der Partei aus und schloss sich einer Initiative an, die gegen eine weitere Reform des Gymnasiums eintrat. Es sollte zwei Jahre abgeben zugunsten einer längeren Grundschulzeit. Im Volksentscheid siegte die Initiative. Kirsch sammelte damals Unterschriften, heute ist sie die treibende Kraft für einen neuerlichen Volksentscheid. Ihr geht es jetzt darum, dass die Schulen sich aussuchen können, ob sie das Abitur nach acht oder neun Jahren anbieten. Bisher geht das in Hamburg an den Gymnasien nur nach acht.

Lehrer verstehen die Vorgaben als Drohung

Als Kuscheleltern werden sie und ihre Mitstreiter deshalb gescholten. Als würden sie ihren Kindern kein Scheitern, keine Härten, keinen Stress im Schulleben mehr zumuten wollen. „Das Gegenteil ist doch der Fall. Wenn ich mich entscheiden muss zwischen einer guten Note und guter Qualität, dann entscheide ich mich für Qualität. Das tut für den Moment weh, aber es ist doch heilsam. Irgendwann fliegen unsere Kinder doch auf die Schnauze, wenn man ihnen immer die besten Noten hinterherwirft.“

Ihre Gegner wollen, dass Schule vor allem eines leistet: für beste Noten sorgen. Weil die wichtig sind, um einen reibungslosen Übergang von Schule zu Beruf oder Hochschule zu gewährleisten – und später dann für ein hohes Einkommen zu sorgen.

Mareile Kirschs Sohn ist in der zehnten Klasse einmal sitzen geblieben. Mit diesem Schuljahr aber können nicht einmal mehr schlechte Noten die Versetzung in den Klassen eins bis zehn gefährden. Das Sitzenbleiben ist abgeschafft, weil Bildungsexperten den pädagogischen Sinn der Maßnahme schon lange infrage stellen. Sitzenbleiben ist überall out. In manchem Schulgesetz in den Ländern steht, dass der Klassenverband häufig nach der siebten Klasse zusammenbleiben sollen.

So verzeichnen die Gymnasien Abgänge mittlerweile vornehmlich nur noch in den ersten paar Jahren. Danach tut sich nicht mehr viel. Die Lehrer verstehen die Soll-Vorgaben als Drohung, niemanden durchfallen zu lassen. „Dabei war das im Grunde ein Geschenk, mein Sohn konnte so noch reifen, vieles nachholen“, sagt Mareile Kirsch.

Zugespitzt ließen sich diese Entwicklungen so formulieren: Aus dem Gymnasium wird die neue Hauptschule und das Abitur der neue qualifizierende Abschluss. In vielen Lehrberufen geht konsequenterweise die Tendenz dahin, Abitur vorauszusetzen: bei Hebammen, bei Pflegepersonal, bei Steuerberatern, Bank-Angestellten. Früher waren das Berufe für Haupt- oder Realschüler. Heute gehen selbst sehr gute Schüler davon aus, dass für diese Jobs Abi notwendig ist.

Auf der Internetseite www.gutefrage.net fand sich unlängst folgendes Hilfegesuch: „Ich besuche aktuell die elfte Klasse eines Gymnasiums und habe einen Halbjahresschnitt von 1,54. Was muss man und wo kann man studieren, um Steuerberater zu werden?“ In den Antworten wird der Einserschüler zwar darauf hingewiesen, dass er gar kein Abi brauche, gleichzeitig werden ihm von BWL über Jura zig Studiengänge geraten. Ist es wirklich ein Beleg für den Wert des Abiturs, wenn es immer mehr Arbeitgeber verlangen? Oder zeigt das nicht vielmehr, dass der Respekt vor dieser Leistung, vor den Abiturnoten gesunken ist?

Die Zahl der Durchfaller sinkt

Die Kultusministerkonferenz stellt seit 2002 eine jährliche Statistik über die Abiturnoten in den Bundesländern auf. Die Dokumente gibt es nur auf Anfrage. Die Abiturienten in allen Ländern werden immer „besser“, bekommen immer häufiger sehr gute Noten. Zur Illustration ein paar Zahlen: In Nordrhein-Westfalen gab es 2006 die Note 1,0 nur 421-mal. 2010 hatten sie schon 763 Schüler. Zwei Jahre später fast 1200.

Innerhalb von sechs Jahren hat sich die Zahl derjenigen mit Höchstnote damit fast verdreifacht. Die Gesamtzahl der Schüler, die das Abitur an Gymnasien, Berufsschulen etc. ablegten, ist dagegen nur um etwa ein Drittel gewachsen. Ähnlich ist die Lage in Berlin. 2002 gab es 17 Bestnoten. 2012 waren es 234. In Hamburg hat sich deren Zahl zwischen 2005 und 2012 von 48 auf 113 erhöht.

Zugleich sinkt überall die Durchfallquote beim Abi. In Nordrhein-Westfalen lag der Anteil um die Jahrtausendwende bei vier Prozent. Heute liegt er bei unter zwei Prozent. Selbst in Bayern, das laut einer Umfrage nach Meinung der Hälfte der Deutschen die beste und anspruchsvollste Schulbildung bietet, ging die Quote zurück. Kaum ein Prozent versagt dort im Schnitt.

Die Notenschnitte steigen flächendeckend, die Unterschiede in den schulischen Anforderungen bleiben. Forscher stellen zwischen den Ländern in einzelnen Fächern Leistungsunterschiede von zweieinhalb Jahren fest. Leistungsunterschiede – nicht Noten-Unterschiede! Selbst wenn ein Schüler im Norden einem Schüler im Süden von den Leistungen her um Jahre hinterherhinkt, hat er möglicherweise bessere Noten.

Denn die werden ja anhand der Anforderungen des jeweiligen Landes, ein Stück weit im Ermessen der Lehrer vergeben. Die von den Kultusministern vorgegebenen verbindlichen Bildungsstandards lassen Spielräume. So sind die verschiedenen Abiture noch längst nicht vergleichbar.

Familien erleben Unterschiede zwischen Bundesländern

Was dieser föderale Flickenteppich im Bildungssystem für die Schüler bedeutet, konnte Stephan Mayer beobachten. Der 52-Jährige kommt aus dem bayerischen Schwaben, lebt und arbeitet aber seit zwölf Jahren als Korrespondent des Bayerischen Fernsehens in Berlin. Mayers Auftritt ist barock und pragmatisch: Er empfängt herzlich in seiner Redaktion am Berliner Schiffbauerdamm und stellt sich dann erst mal vor die Schrankküche, um Kaffee zu kochen. Seine Sekretärin hat frei.

Mayer stammt aus einem Handwerkerhaus, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Musik in Augsburg. Das Reifezeugnis sei ihm und auch seiner Lebensgefährtin, die Ärztin ist, für den Nachwuchs sehr wichtig gewesen – schon der Berufsaussichten wegen.

Eine Familie – ungleiches Abitur: Katharina (l.) machte ihre Prüfungen in Berlin, Sophie in Augsburg. Der Numerus Clausus an der Berliner Humboldt-Uni ist für beide eine große Hürde
Eine Familie – ungleiches Abitur: Katharina (l.) machte ihre Prüfungen in Berlin, Sophie in Augsburg. Der Numerus Clausus an der Berliner Humboldt-Uni ist für beide eine große Hürd...e
Quelle: Martin U. K. Lengemann

Mayers Tochter aus geschiedener Ehe, Katharina, und die drei Kinder seiner Lebensgefährtin haben alle in diesem oder im letzten Jahr Abitur gemacht – aber an ganz verschiedenen Orten. Während Katharina ihre Prüfungen in Berlin ablegte, die mündliche erst vor wenigen Tagen, machte der Jüngste, Alexander, in Augsburg Abitur. Seine Mutter Kristin und Stephan Mayer sind seit mehreren Jahren ein Paar. Eine Zusammenführung der Patchworkfamilie hat aber bisher nicht stattgefunden, das lag auch an den Schulen. „Die beiden Bildungssysteme in Berlin und Bayern sind kaum vereinbar“, sagt Mayer.

In Augsburg besuchten Alexander und seine beiden Geschwister eine Klosterschule mit humanistisch-musischem Schwerpunkt, lernten Griechisch, gingen in die Nachmittagsbetreuung; ein Profil, auf das Mutter Kristin viel Wert legte, das in Berlin aber ein Kuriosum ist.

Besonders deutlich wurde der Unterschied zwischen Berlin und Bayern in den letzten Wochen – allerdings anders, als man erwarten würde. Katharina hatte zwar das als leichter geltende Berlin-Abitur, musste aber doch verhältnismäßig viel pauken, weil die Vorbereitung in den vorausgegangenen Klassen nicht so gut war. Dafür hatte sie die Möglichkeit, im Abitur das ungeliebte Fach Mathematik wegzulassen.

Alexander dagegen, erzählt Mayer und grinst dabei, „war jetzt nicht so der große Lerner – und musste in Augsburg Mathe-Abi machen.“ Ein Grund dafür, warum sein Schnitt trotzdem noch ganz passabel sein dürfte, sei die viel bessere – da strengere – bayerische Oberstufe gewesen. Doch ob ein ordentliches Resultat reicht?

Zentralabitur hebt den Notenschnitt

In Berlin ist mittlerweile wie in Bayern das Zentralabitur üblich. Früher entwarfen Lehrer in den Ländern für ihre Klassen meist zwei Aufgaben, schickten sie an die Schulbehörde und erhielten eine davon in einem verschlossenen Umschlag zurück. Die Umstellung aufs Zentralabitur wurde mit Fairness begründet und damit, dass dessen Standards höher seien – siehe Bayern. Das war offenbar ein Trugschluss. Vor allem in den Jahren nach Einführung des Zentralabiturs stieg die Zahl der sehr guten Absolventen signifikant.

In Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen gibt es ein solches Abi seit 2007, in Brandenburg und Hamburg seit 2005, Niedersachsen hat es seit 2006, Schleswig-Holstein seit 2008. Ausnahme bleibt Rheinland-Pfalz. Bemerkenswerterweise sind zwar auch dort die Bestnoten zahlreicher geworden, allerdings nicht explodiert wie andernorts. „In den Ländern, wo das Zentralabitur eingeführt wurde, wurden die Aufgaben oftmals leichter“, sagt der Präsident der Universität Hamburg, Dieter Lenzen. Offenbar führe das Zentralabitur zu Standardisierungseffekten, die auch Vereinfachungseffekte sein könnten: „Man einigt sich auf niedrigerem Niveau.“

Dieter Lenzen, der Präsident der Universität Hamburg, stellt fest: „In den Ländern, wo das Zentralabitur eingeführt wurde, wurden die Aufgaben oftmals leichter“
Dieter Lenzen, der Präsident der Universität Hamburg, stellt fest: „In den Ländern, wo das Zentralabitur eingeführt wurde, wurden die Aufgaben oftmals leichter“
Quelle: Bertold Fabricius

Lenzen hadert mit dem Können seiner Studenten. Das Abitur bereitet seiner Meinung nach häufig nicht mehr adäquat auf ein Studium vor. „Die zentrale Aufgabe des Abiturs, die allgemeine Hochschulreife zu garantieren, ist aus dem Auge geraten“, sagt Lenzen. In der Schule werde sehr früh eine Spezialisierung erwartet. Die jungen Leute sollten viel zu früh wissen, was sie einmal machen wollen. „Die Allgemeinbildung geht oftmals verloren.“

Lenzen hat für seine Hochschule deshalb ein Universitätskolleg nach dem Vorbild der amerikanischen „Colleges“ eingerichtet. Dieses Kolleg widmet sich nicht fachlicher Vertiefung, sondern dient der Allgemeinbildung. „Es geht um Persönlichkeitsbildung.“ Lenzen ist sicher, dass viele Unis seine Idee kopieren werden. Stellt sich die Frage, wer künftig die Kosten übernimmt, wenn die Hochschulen eine Aufgabe übernehmen, die früher den Gymnasien zugedacht war. In Hamburg wird das Kolleg derzeit aus Projektmitteln des Bundes finanziert.

Hochschulen vergeben auch nur Best-Noten

Noch sind vorbereitende Kollegs die absolute Ausnahme. Häufiger sind Aufnahmeprüfungen an Hochschulen, die den Abiturienten Eignung oder Nicht-Eignung vor Augen führen sollen. Die Unis ziehen so qualifizierte Studenten an und reduzieren die Abbrecherzahl. Allein, solche Tests sind vielen Hochschulen oft zu aufwendig, sie verlassen sich lieber weiterhin auf den Numerus clausus (NC), also die Abi-Note. Mittlerweile ist jeder zweite Bachelor-Studiengang mit NC belegt. In Hamburg und Berlin herrscht Total-NC. Wer sich hier mit einem Dreierschnitt bewirbt, gilt als Realitätsverweigerer.

Die Hochschulen tragen so in gewisser Weise eine Mitschuld an der Entwertung des Abiturs. Denn sie gehen noch wie selbstverständlich davon aus, dass ein Abitur automatisch der Beleg für eine Ausbildung ist, die gezielt auf die Arbeit in der Wissenschaft vorbereitet. In den Schulgesetzen der Länder stand früher der Satz, dass das Abitur „auf das Studium“ vorbereite. Heute steht dort „auf Beruf und Studium“. Der Versuch der Hochschulen, die Abiturienten mit Brückenkursen „auf Stand“ zu bringen, deutet nicht nur auf eine Schulkrise hin, sondern auch auf eine Hochschulkrise.

In ihrer Lehre beharren Professoren nicht selten auf den Inhalten, die sie schon seit Jahrzehnten vermitteln. Berichte von Geschichtsdozenten, die ihren Studenten, die gerade anfangen, das Latinum nachzuholen, schwere mittelalterliche Texte auf Latein vorlegen, sind nicht erfunden. Am Ende werden an den Hochschulen trotzdem kaum Noten schlechter als Zwei vergeben. Es sind die Unis, die den Schulen seit Jahren vormachen, wie Gute-Noten-Inflation geht.

Es ist grotesk: Einerseits stellen die Unis die Aussagekraft des Abiturs und der Noten infrage, andererseits orientieren sie sich weiter daran, halten am Numerus clausus fest. „Wenn das Abitur blind als Eingangsvoraussetzung für das Studium verwendet wird, ist das ein Problem. So ein System bedarf einer strikten Vergleichbarkeit der Abiture über alle Schulen und alle 16 Länder hinweg. Und die ist nicht gegeben“, sagt Jörg Dräger.

Numerus Clausus löst bei vielen Ängste aus

Das wurde irgendwann auch den Kindern aus der Familie von Stephan Mayer bewusst. „Bei uns dreht es sich gerade jeden Tag um dasselbe Problem: Wessen Schnitt nicht unter 1,5 liegt, für den kommen die begehrten Studienfächer nicht infrage“, sagt Mayer. Zudem hätten die Augsburger Kinder einen „Riesen-Standortnachteil“, wie er findet: „Die unterschiedlichen Standards führen dazu, dass die Abiturienten in Berlin dieselben Chancen auf einen Studienplatz haben wie jemand, der sich denselben Abiturschnitt in Bayern oft härter erkämpfen musste.“ Vor dem Numerus clausus sind eben alle gleich.

Katharina und Sophie, die beiden Töchter der Familie, kennen dieses Problem nur zu gut. Die beiden wären gern Kommilitoninnen – Sophie studiert im zweiten Semester an der Berliner Humboldt-Universität, Katharina möchte eigentlich zum Wintersemester dort beginnen. Doch die Chancen in ihrem favorisierten Fach Psychologie stehen schlecht. Vor ein paar Tagen erst hat die 19-Jährige in Berlin ihr mündliches Abitur in Deutsch abgelegt. Sie musste unter anderem eine Rede von Bundestagspräsident Norbert Lammert analysieren. „Es war ganz in Ordnung“, sagt die junge Frau im Innenhof ihrer Wunsch-Universität.

Wie sie da so mit großer Handtasche und Trenchcoat auf einer Bank unter den mächtigen Rosskastanien sitzt, wirkt sie bereits wie eine Studentin, die mal eben zwischen zwei Seminaren Pause auf ihrem Campus macht. Aber genau dieses Szenario ist im Moment sehr unwahrscheinlich: Ihren Schnitt von 2,0 wird sie wohl halten, „aber in Psychologie liegt der NC an der Humboldt-Uni derzeit sogar bei 0,8“, sagt Katharina. Der Studiengang sei eben wahnsinnig beliebt – und für sie damit unerreichbar. Eine frustrierende Erfahrung für die Berlinerin, trotz ihres durchweg guten Abiturs.

Sophie, die im Sozialwissenschaftlichen Institut studiert, kennt diese Probleme. Die 19-Jährige hat ihr 2,0-Abi letztes Jahr in Augsburg gemacht und sich danach in Berlin beworben. Sie ergatterte einen Platz – aber nur mit Glück: „Ich war eine der Letzten, die reingekommen sind.“ Die große Mehrheit ihrer Mitstudenten habe mindestens eine Eins vorm Komma. Dass Sophie für das Reifezeugnis in Bayern fünf Prüfungen ablegen musste, davon drei schriftliche, darüber hinaus eine Facharbeit mit zusätzlicher Präsentation verfassen musste, spielte im Wettbewerb mit Abiturienten aus Nordrhein-Westfalen, Hamburg oder Berlin keine Rolle.

Dennoch sieht sie in ihrer Schufterei am Augsburger Gymnasium einen Vorteil: „Ich denke, dass das bayerische Abitur besser auf die Universität vorbereitet.“ Dinge wie Hausarbeiten seien schon in ihrer Oberstufe Standard gewesen. Während andere schon beim Erstellen eines Inhaltsverzeichnisses überfordert waren, schrieb sie an der Uni gleich drei Hausarbeiten – in eineinhalb Wochen. „Ich bin definitiv dafür, das Niveau in Bayern nicht abzusenken“, sagt die Studentin deshalb.

In ihrem Semester gebe es zwar viele kompetente Leute – aber eben auch einige, bei denen man gemerkt habe, dass die Hürden auf dem Weg zur Hochschulreife nicht sonderlich hoch gewesen sein konnten. Oder, wie Katharina es formuliert: „Natürlich muss man vorher aussortieren, wer einen Studienplatz bekommt und wer nicht. Aber der NC sagt etwas über die Leistungen in der Schule aus, nicht über die Intelligenz.“

Stephan Mayer traut den Zeugnissen der Praktikumsbewerber nicht. Der Korrespondent des Bayerischen Rundfunks in Berlin sagt: „Meine Erfahrung ist, dass diese jungen Menschen oft nicht über das Können verfügen, das ihre Noten ausweisen“
Stephan Mayer traut den Zeugnissen der Praktikumsbewerber nicht. Der Korrespondent des Bayerischen Rundfunks in Berlin sagt: „Meine Erfahrung ist, dass diese jungen Menschen oft ni...cht über das Können verfügen, das ihre Noten ausweisen“
Quelle: Martin U. K. Lengemann

Auf der schwarzen Ledercouch im Büro ihres Vaters, das gleichsam als ironischer Kommentar ein Bild von Schloss Neuschwanstein ziert, sitzen häufig junge Menschen. Sie bewerben sich auf einen Praktikumsplatz beim Bayerischen Fernsehen. Seitenlang seien ihre Lebensläufe, vollgestopft mit Sprachkenntnissen, Auslandsaufenthalten – und Bestnoten, erzählt Stephan Mayer. Doch auf diese Zahlen sei kein Verlass: „Der Abiturschnitt hat nicht unbedingt mit Wissen oder Allgemeinbildung zu tun“, sagt er. „Meine Erfahrung ist, dass diese jungen Menschen oft nicht über das Können verfügen, das ihre Noten ausweisen.“

Schüler müssen häufiger in die Psychiatrie

Die Schulen stecken in einem Dilemma. Zum einen sollen sie eine bestmögliche allgemeine Bildung garantieren, zum anderen lastet immer höherer Druck auf ihnen, bestmögliche Noten zu produzieren. Das eine geht nicht notwendigerweise mit dem anderen einher. Noten werden dabei zusehends wichtiger – wegen des NCs. Und auch weil die Schüler viel mehr als früher auf Bestnoten fixiert sind. Es geht schließlich um ihre Zukunft. Und die wird in Deutschland mit Zertifikaten begründet. Noten sind Eintrittskarten für das Leben.

Noch vor einem halben Jahrzehnt machten sich Schüler die größten Sorgen, ob sie je einen guten Job finden würden. Heute sehen sie einen anderen Übergang als noch schwieriger an. Laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung, die in den nächsten Tagen erscheint, sorgen sich die jungen Menschen vermehrt um den Einstieg in ein Studium. 2008 gaben 31 Prozent von ihnen sechs Monate vor dem Abitur an, dass ihnen Beschränkungen wie der Numerus clausus Sorgen bereiten. Zwei Jahre später waren es schon 34 Prozent, 2012 dann 42 Prozent. Es ist dieser Wert, der sich in der Untersuchung am stärksten verändert hat. Dagegen ist die Angst vor dem Berufseinstieg geringer geworden.

Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf, berichtet von Schülern der zehnten Klasse mit Erschöpfungsdepressionen: „So ein Phänomen hat es vor zehn Jahren noch nicht gegeben“
Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf, berichtet von Schülern der zehnten Klasse mit Erschöpfungsdepressi...onen: „So ein Phänomen hat es vor zehn Jahren noch nicht gegeben“
Quelle: Bertold Fabricius

Psychologen und Psychiater haben heute vermehrt mit Schülern zu tun, die an einer Art Burn-out leiden. „So ein Phänomen hat es vor zehn Jahren noch nicht gegeben. Heute kommen Schüler der zehnten Klasse und klagen, dass sie mit einem Abi-Schnitt von 1,5 nichts mehr werden können. Sie haben Erschöpfungsdepressionen“, sagt Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf. „Die Kids sind lebensfähiger, reflektierter, vernünftiger. Aber sie empfinden einen enormen Leistungsdruck.“

Und entgegen dem Klischee ist es nicht so, dass es die Eltern sind, die diese Tendenz befördern. Das Leistungsprinzip unterstützen sie, Leistungsdruck jedoch lehnen sie ab. In einer Studie von TNS Emnid aus dem Jahr 2012 rangierte an oberster Stelle der Elterngunst die Erwartung, dass Schule Wert auf soziales Verhalten legen und allen die gleichen Bildungschancen gewähren soll (beide 84 Prozent). Leistungsorientierung landete ganz hinten (28 Prozent).

Anspruch der Schüler- und der Elterngeneration fallen hier weit auseinander. „Die Schüler erleben das Problem nicht als Konkurrenz untereinander, sondern als mangelhaft zur Verfügung gestellte Ressourcen durch die Erwachsenen. Das führt aber nicht zu Wut, sondern sie passen sich an, suchen andere Wege“, sagt Klinikdirektor Schulte-Markwort.

Schulen müssen sich heute für Versager verantworten

Lehrer und Schulleiter wissen, welche Verantwortung sie übernehmen, wenn sie Schülern keine guten Noten geben. Dieses Bewusstsein allein würde aber kaum zu immer besseren Noten führen. Entscheidend ist die Atmosphäre an den Schulen. Viele Eltern haben Schule noch ganz anders erlebt; als einen Ort, wo Noten die „Quittung“ für irgendwas waren, eine „Strafe“, Ausweis des eigenen „Versagens“. Zu diesen Zuständen will niemand zurück. Das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern ist heute ein anderes, weit weniger distanziert, oft freundschaftlich.

Eigentlich beste Voraussetzungen, um den Elternwunsch nach Gleichbehandlung aller zu erfüllen. Doch das ist den Lehrern nicht mehr erlaubt. Denn Bildungsexperten und die Politik erwarten von ihnen heute das genaue Gegenteil: In den Schulgesetzen steht mittlerweile, dass jeder Schüler das Recht auf individuelle Förderung – und damit Ungleichbehandlung – hat. Die Konsequenzen dieses neuen Paradigmas sind weitreichend. Versagt ein Schüler in einer Prüfung, liegt der Rechtfertigungsdruck bei der Schule, weniger beim – vielleicht faulen – Schüler. Die Bringschuld liegt beim Lehrer. Nachvollziehbar, dass in einer solchen Situation im Zweifelsfall eher die bessere als die schlechtere Note vergeben wird.

Verstärken dürfte sich dieser Effekt wegen des demografischen Wandels und der Konkurrenz der Schulen, die das Abitur vergeben. Früher war das ein Privileg der Gymnasien. Heute kann ein Kind zwischen ihm, einer Gemeinschafts- oder Gesamtschule oder einer beruflichen Schule entscheiden. Jede dieser Schularten hat ein anderes Profil. Gerade in rot-grün geführten Ländern genießt die Gemeinschaftsschule die volle Aufmerksamkeit der Politik. Und dort kann man regulär das Abi nach neun Jahren machen, was viele Eltern charmant finden.

Die Schulen wetteifern also regelrecht um die Jugendlichen. Wer die am besten bewerteten Absolventen hervorbringt, ist da eine ganz entscheidende Frage. Während eine hohe Durchfallquote früher Ausweis hoher Leistungsanforderungen und positiv besetzt war, gilt sie heute als negativ. Es gilt vielmehr: Gute Noten sind gut für alle. Schlechte Noten sind im Umkehrschluss schlecht für alle.

In Coburg steht dieser Tage der Direktor des renommierten Gymnasiums Casimirianum unter dem Vorwurf falscher Beurkundung vor Gericht. 2012 und 2013 soll er die Deutsch-Abiturnoten eigenmächtig sämtlich um einen Punkt angehoben haben. Das bestreitet er auch gar nicht, fühlt sich aber im Recht. Laut seiner Lehrerschaft soll er dies auch mit Verweis auf die besseren Schnitte an den anderen Coburger Gymnasien begründet haben.

Lehrer beklagen den Niveauverlust der Prüfungen

Klaus Pache, Chemie- und Mathelehrer am Evangelisch Stiftischen Gymnasium in Gütersloh, hat mit Einführung des Zentralabiturs einen merklichen Niveauverlust festgestellt
Klaus Pache, Chemie- und Mathelehrer am Evangelisch Stiftischen Gymnasium in Gütersloh, hat mit Einführung des Zentralabiturs einen merklichen Niveauverlust festgestellt
Quelle: Stefan Thomas Kröger

Das Oberstufenbüro des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums Gütersloh ist kein heimeliger Ort. Der bunte Spielplan der Fußball-WM an der Wand ist sein einziger Schmuck. Klaus Pache und Jürgen Schröder sind eben pragmatische Typen. Firlefanz brauchen sie nicht. Auf einem Tisch haben die beiden Oberstufenbetreuer Hunderte Seiten verfasster Schülergedanken ausgelegt. Die hellbraunen Aktendeckel tragen Aufschriften wie „Spanisch GK“ oder „Biologie LK“. Es sind die schriftlichen Prüfungen des aktuellen Abiturjahrgangs. Gerade sind sie von den Zweitkorrektoren zurückgekommen.

Die Noten stehen nun fest. Weil die mündliche Prüfung aber noch aussteht, will Direktor Friedhelm Rachner die Qualität nicht bewerten. Vor zwei Jahren hatten 38 Prozent seiner Schüler eine Eins vor dem Komma. Der zweitbeste Wert in Ostwestfalen. „Natürlich sind wir darauf stolz“, sagt er. „Das spricht doch auch für uns.“

Bevor die Arbeiten in den Safe wandern, wirft Mathe- und Chemielehrer Claus Pache einen Blick auf die Ergebnisse. Der 63-Jährige freut sich für die, die gerade noch bestanden haben. „Einer hat genau die nötigen 100 Punkte erreicht, das hätte ich bei dem gar nicht gedacht.“ Er strahlt. Und leidet gleichzeitig schon mit jenen, denen er in einer Woche eröffnen muss, dass sie in die Nachprüfung müssen: „Das wird der Tag der Tränen.“ Seit den frühen 90er-Jahren betreuen Pache und Physiklehrer Schröder Abiturienten. Sie lieben ihren Beruf. Pache steht kurz vor der Pensionierung. Glücksmomente verschafft ihm der Gedanke daran wahrlich nicht. Würden sie Prüfungen schönrechnen? „Also! Nie im Leben!“

Dass mehr Schüler heute bessere Ergebnisse erreichten, sich aber auch im mittleren Leistungsbereich immer mehr sammelten, Ausreißer nach unten seltener würden, dafür gebe es aber Gründe. „Das Niveau ist heute darauf abgestellt, dass das Gros der Leute das Abi gut schafft“, sagt Pache. Es sei immer schwerer, richtig schlechte Noten zu bekommen. Das liege an den Vorgaben der Politik, dem Zentralabitur. Dies sei die größte Veränderung der vergangenen Jahrzehnte gewesen.

„Als es noch kein Zentralabitur gab, haben wir mit den Schülern aus Lust richtig schwere Sachen gemacht“, sagt Schröder. „An diese Grenzen führen wir sie heute kaum noch. Wir üben lieber die Aufgaben, die ihnen im Abitur auch nutzen, und das immer wieder. Alles ist leider schematischer geworden.“ Mit jedem Zentral-Abi-Jahrgang wächst der Pool an Beispielaufgaben, die die Schüler pauken können. Verlage geben sie als Bücher heraus.

Wunsch nach Vergleichbarkeit hat einen hohen Preis

Pache hat in den letzten Tagen selbst Abiturient gespielt. Viele Aufgaben gerechnet. Nicht nur die Aufgaben aus NRW, die sowieso. Er hat sich auch jene angesehen, die aus einem gemeinsamen Topf stammen, aus dem sich Bayern, Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen bei den Abi-Aufgaben dieses Jahr bedienten. Ziel der Kultusminister ist, dass irgendwann alle Länder mitmachen. Damit es nicht mehr heißt, das Bremer Abi sei weniger wert als das bayerische.

Doch der Preis für den Wunsch nach Vergleichbarkeit, den die Bürger artikulieren, ist nach Paches Meinung hoch, zu hoch: „Ich habe mich sehr gewundert, dass Bayern das mitmacht. Das Niveau der gemeinsamen Aufgaben liegt noch unter dem NRW-Abitur und weit unter dem bisherigen in Bayern. Davor haben wir uns früher manchmal verneigt. Nun hat man sich irgendwo auf dem Hamburger Level getroffen. Wohin soll das führen?“ Von der Absenkung des Niveaus zugunsten besserer Noten hält er gar nichts. „Wenn man sie nicht herausfordert, scheitern manchmal sogar die Besten an leichten Sachen. Sie verschlampen irgendwie.“

Schließlich gebe es da noch eine Veränderung, die dazu führe, dass sie als Lehrer immer öfter gar keine ganz schlechten Noten mehr vergeben könnten, sagt Schröder. „Heute muss fast jede Aufgabe anwendungsorientiert sein. Es gibt bereits Punkte dafür, dass man das Ergebnis ordentlich präsentiert oder in einem ganzen Satz formuliert. Das sind schließlich auch Kompetenzen.“ Manche Schüler würde das retten, ergänzt sein Kollege Pache und lächelt. „Es wird schwer, sitzen zu bleiben.“ Die Schulministerin Nordrhein-Westfalens hat die Zunahme der vielen Einser-Abiture in ihrem Land zuletzt damit begründet, dass sich die Schüler einfach mehr anstrengen.

Umstellung auf angelsächsisches System

Was die beiden Gütersloher Lehrer beschreiben, nennt die Schulbürokratie und Forschung „Kompetenzorientierung“. Ein schauerlicher Begriff. Das Gegenteil ist die „Lernzielorientierung“. Dabei ist im Lehrplan haarklein festgelegt, welche Inhalte ein Schüler lernen soll. So war das bis um die Jahrtausendwende üblich. Ob die Inhalte sich zu etwas fügten, zu einem Bild etwa von einer Epoche in Geschichte oder ob in der Mathematik damit alltagstaugliche Rechnungen realisierbar waren, war nicht so wichtig. Heute geht es fast nur noch darum. Wissen muss anwendbar sein.

„Die Politik hat im Kern das alte deutsche Abitur abgeschafft. Mit der Kompetenzorientierung hat man ein angelsächsisches System eingeführt“, sagt Schulleiter Rachner. Er selbst hat lange im angelsächsischen Raum, in Wales, gelehrt. Er hat erfahren, wohin sich so ein System entwickelt. „Es gibt den Lehrern die größten Freiheiten in der Unterrichtsgestaltung. Das hat einiges für sich, aber die Erwartung war dann von oben immer, dass auch die besten Ergebnisse herauskommen.“

Mittlerweile tauchen in Mathematik fast nur noch Textaufgaben auf. Auch im Abitur. Schüler sollen Prozesse verstehen, sie argumentieren, Probleme lösen und sie darstellen. Weil die rein kommunikativen Fähigkeiten in die Bewertung einfließen, sieht es für den Schüler, der von Mathe keinen Schimmer hat, besser aus als früher. Gleiches gilt für den Englisch-Unterricht, wo derjenige bessere Karten hat, der einfach drauflosplappert. Früher wurden Fehler gezählt, heute zählt die kommunikative Kompetenz mehr. In den Prüfungen sind sogar zweisprachige Wörterbücher erlaubt. Nachschlagen an sich gilt bereits als Kompetenz.

Hans Peter Klein, Professor für Biologiedidaktik an der Universität Frankfurt, gehört zu den radikalen Gegnern des neuen Abiturs. „Der neue Abiturient begibt sich in den von ihm zu bearbeitenden Aufgabenstellungen auf eine Art Ostereiersuche, in dem nahezu alle Antworten aus dem vielfältigen Text- und Grafikmaterial zu entnehmen sind. Lesekompetenz ist gefragt. Fachwissen ist Schnee von gestern. Damit belastet man sich heute nicht mehr, das googelt man“, sagt Klein.

Untersucht hat er Aufgaben in den Fächern Mathematik und Biologie. Dabei legte er Schülern der 11. Klasse aus Nordrhein-Westfalen zwei Aufgaben aus der Analysis vor. Eine aus der Zeit vor der Einführung des Zentralabiturs und eine aus der Zeit danach, als die Kompetenzorientierung Standard wurde. „In der Zentralabituraufgabe erreichten bis auf zwei Schüler alle anderen zumindest ausreichende Leistungen, während in der Kontrolle in der gleichen Klasse von den an diesem Tag anwesenden 22 Schülern 21 scheiterten, davon 63 Prozent mit der Note ‚ungenügend‘.“

Selbst wenn Klein sich bewusst für eine besonders leichte und eine besonders schwere Aufgabe entschieden haben sollte, der Befund ist frappierend. „Man hat die Kompetenzorientierung dazu missbraucht, das zu deren Entwicklung notwendige Wissen weitgehend zu entfernen, insbesondere in den Zentralabituraufgaben fast aller Fächer, im zugrunde liegenden Unterricht zunehmend auch.“ Nur das Wissen werde als erstrebenswert erachtet, das anwendbar sei und im Rahmen einer weltweiten „employability“ Konkurrenzvorteile verschaffe. „Bildung und Wissen als Wert an sich spielt in diesem Konzept keine Rolle mehr.“

Wie lässt sich der Niveauverlust aufhalten?

Der Streit über die Kompetenzorientierung ist nur noch ein akademischer. In der Bildungspolitik wird diese Methode nicht infrage gestellt. Die Schulen müssen sie hinnehmen, wie sie alle Bildungsreformen hinnehmen mussten. Pragmatismus oder Fatalismus? Klein glaubt, dass die Noteninflation sich fortsetzen wird. „Die Bundesländer scheinen gerade darum zu wetteifern, wer möglichst schnell die möglichst höchsten Abiturientenquoten generiert. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.“

Lässt sich also die Entwertung des Abiturs gar nicht aufhalten? So zahlreich, wie die Ursachen für den Wert- und Niveauverlust sind, so zahlreich sind Ansätze und Ideen, ihn zu stoppen. Viel weniger Schüler aufs Gymnasium zu lassen, wie es die Schüler selbst vorschlagen, wäre wohl eine Lösung, aber keine, die sich bildungs- und sozialpolitisch vertreten lässt. Bei der Kompetenzorientierung wird es ebenfalls bleiben. Man muss also darauf vertrauen, dass sich die Übertreibungen, die am Anfang jeder Neuerung stehen, abschwächen.

Oder aber man legt gleich ein neues Notensystem zugrunde. Das wäre Jörg Drägers Idee. „Ich plädiere für ein doppeltes Bewertungssystem: eine absolute Note für das erreichte Kompetenzniveau und eine relative Note für den Lernfortschritt im Laufe eines Jahres. Das wäre ein fairer Ausgleich zwischen den Guten, die sich nicht mehr anstrengen, und den Schwächeren, die sich sehr bemühen“, sagt der Vorsitzende der Bertelsmann-Stiftung. Wieso sollte man aber die Besten bestrafen dafür, dass sie nicht mehr ausreichend gefordert werden? Bisher existiert die doppelte Benotung nur auf dem Papier.

Für Mareile Kirsch aus Hamburg ist klar, dass es Qualität nur dann gibt, wenn sich das Gymnasium wieder mehr Zeit lässt. „Das neunjährige Gymnasium würde den jungen Leuten erlauben, zu reifen, Bildung abseits der Schule zu erwerben, indem sie dafür Zeit bekommen.“ Es wird spannend sein zu beobachten, was mit den Abiturnoten passiert, wenn das G9 tatsächlich wieder Standard wird. Dass es so kommt, ist in den westdeutschen Ländern wahrscheinlich.

Wenn sich aber der Unterricht und die Prüfungen nicht ändern, weil es die Kultusbürokratie so will, bleibt noch ein anderer Weg, wie der Gütersloher Gymnasiallehrer Klaus Pache hofft: „Die Unis müssen endlich aufhören, von den jungen Leuten Sachen zu erwarten, die diese einfach nicht mehr lernen. Die Hochschulen müssen sich auch bewegen, nicht nur immer wir Schulen.“

Schließlich bleibt denjenigen, für die das Abi für alle keine Verheißung ist, noch ein Ausweg: ganz auf das Abi verzichten. Denn schon jetzt bekommt man ohne diese Form der Hochschulreife fast jeden gewünschten Studienplatz. Wie das geht? Die Politik hat dafür gesorgt, dass Berufstätige ohne Abitur ebenfalls studieren können. Die Hochschulen halten für sie Plätze frei. Teilweise würden sie zehn Prozent eines Jahrgangs mit Berufsabsolventen besetzen. Ihnen bleibt der Kampf um die beste Abi-Note erspart. Sie müssen sich nicht fragen lassen, was ihr Abi noch taugt. Der Numerus clausus zählt für sie ebenfalls nicht.

Natürlich müssen sie sich dann durchbeißen, aber die Tür steht offen. Und Anerkennung ist ihnen sicher. „Kein Abitur“ ist besser als Abitur. Aber das hat sich noch nicht herumgesprochen.

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