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Kultur Büchnerpreis

Sibylle Lewitscharoff gehört zu den Besten

Leitender Feuilletonredakteur
Immer streitbar, immer eloquent, immer temperamentvoll bei der Sache: Sibylle Lewitscharoff Immer streitbar, immer eloquent, immer temperamentvoll bei der Sache: Sibylle Lewitscharoff
Immer streitbar, immer eloquent, immer temperamentvoll bei der Sache: Sibylle Lewitscharoff
Quelle: picture alliance/ ZB
Die Wahlberlinerin aus Schwaben ist die neue Trägerin des Georg-Büchner-Preises. Nach vielen Fehlentscheidungen eine Wahl, die rundum überzeugt. Sibylle Lewitscharoff ist ein echte poeta doctus.

Die Jury der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung strauchelt häufig, aber sie findet dann doch immer wieder auf den richtigen Weg. Nach einigen verwunderlichen, man ist geneigt zu sagen: abwegigen Entscheidungen der letzten Jahre für Vertreter einer sektiererischen Nischenmoderne hat sie sich endlich wieder für ein Stück aus der Mitte entschieden. Für eine Schriftstellerin, bei der Kunst von können kommt (und nicht von wollen oder faseln). Für eine Figur unseres literarischen Lebens, an der einfach alles überzeugt: die 59-jährige Sibylle Lewitscharoff.

Theologie und Philosophie

Als gebürtige Schwäbin (Stuttgart-Degerloch) stammt sie aus dem Herzland deutscher Kultur, hat sich aber, um der Hauptgefahr ihres Stammes, der „Verhocktheit“, zu entgehen, erfreulicherweise schon als Zwanzigjährige für ein urbanes Leben entschieden und lebt seit Jahrzehnten in Berlin, im alten Westen, wie sich versteht.

Ihre intellektuellen Interessen, die sie seit dem Studium an der Freien Universität mit systematischer Akribie verfolgt, bindet sie vielleicht noch mehr als ihre Abkunft an die wichtigen, kardinalen Strömungen deutschen Geisteslebens: Theologie und Philosophie. Nie hat sich Lewitscharoff dabei von jenen totalitären Verfestigungen verführen lassen, die für ihre Generation so typisch sind und auch stets die Gefahr des deutschen Philosophierens waren. Sie spricht in diesem Zusammenhang gern von theologisch-philosophischen Suchbewegungen. Das Finden überlässt sie den Ideologen.

Begnadete Polemikerin

Jawohl, sie ist, was inzwischen hierzulande hohen Seltenheitswert besitzt, ein klassischer poeta doctus, aber nicht in dem verstiegenen, pseudo-intellektuellen Sinn einer Elfriede Jelinek, sondern, nun wiederum die schönsten Seiten des deutschen Protestantismus fruchtbar machend, mit jener Klarheit, die das einprägsame Donnerwort eines Martin Luther auf dem Psalter ihrer Ausdrucksmöglichkeiten obenan stehen hat, und die begnadete Polemikerin macht oft und gern davon Gebrauch – wer sie einmal in öffentlichen Diskussionen erlebt hat, weiß, wovon hier die Rede ist.

Bei Sibylle Lewitscharoff waltet in unserer Zeit der Weichspül-Floskeln und der heraufziehenden Diktatur einer political correctness die Unerschrockenheit eines Menschen, der noch den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Wenn es sie nicht gäbe, man müsste sie schlechterdings erfinden.

Doch so wichtig es ist, zumindest ansatzweise die geistige Physiognomie dieser Autorin nachzuzeichnen und sie auf dem literarischen Feld von heute zu verordnen – den Preis, den man (wenngleich mit leisem Zähneknirschen) noch immer als die bedeutendste literarische Auszeichnung des Landes bezeichnen muss und die mit stattlichen 50.000 Euro dotiert ist, erhält sie für ihr schriftstellerisches Werk. Ein schmales, leider, noch immer, jedoch ein gewichtiges, gerade in ihren stilistischen Eigenarten sowie im Glanz ihrer Sprachschöpfungen ganz und gar unverwechselbares, überaus reizvolles Werk.

Ausflüge ins Fantastische

Die Darmstädter Jury hebt in ihrer Begründung mit Recht hervor, dass Lewitscharoff „die genaue Wahrnehmung der deutschen Gegenwart in Bereiche des Satirischen, Legendenhaften und Phantastischen“ erweitere. Mag in weiter zurückliegenden Jahren dabei das Satirische gewissermaßen als ursprüngliches Movens ihres Schreibens überwogen haben (zum Beispiel in ihrem nach wie vor an erzählerischer Dichte unübertroffenem Roman „Montgomery“ von 2003 über einen deutschen Untergeher in Rom), oder in „Apostoloff“ (2009), der mit grandioser Bosheit am Beispiel Bulgariens Verödung und Verblödung Osteuropas durchdekliniert, so scheint sich doch in letzter Zeit herauszukristallisieren, dass die Ausflüge ins Phantastische sie noch mehr reizen.

Lewitscharoffs letzter Roman über den Philosophen Blumenberg, dem sie einen realen, wiewohl nur vom Helden selbst zu erblickenden Löwen nicht nur als intellektuelles Wappentier, sondern als Begleitdogge beigibt, hat auf stupende Weise gezeigt, wie man Legenden-Attribute für ein zeitgemäßes narratives Modell fruchtbar machen kann. Und auch in diesem Fall wird allzu einschüchternder Erhabenheit (und Langweile!), die das Heraufrufen der großen abendländischen Erzähl-Topoi so oft mit sich bringt, die Spitze gebrochen durch das, was die Akademie jetzt sehr treffend Lewitscharoffs „erfrischend unfeierlichen Sprachwitz“ nennt. Genau das unterscheidet sie von den tranigen Bildungshubereien eines Durs Grünbein: Sie ist, bei aller Gelehrtheit, die bisweilen durchaus in eine gewisse Spitzfindigkeit übergehen kann, komisch oder um es mit einem Codewort ihres wunderbaren Stuttgart-Essays zu sagen: lustig.

Die Toten sind nicht rein

Ihr vielleicht schönstes, versponnenstes und in einem geradezu verblüffenden Sinne poetischstes Werk ist jedoch ihr kleiner Roman „Consummatus“, erschienen 2006 – die reine Kopfgeburt, schaumgeboren, weltverloren, eine Phantasie, nicht im Ratskeller zu Bremen, wie ihr Landsmann Wilhelm Hauff sie einst ersann, sondern in einem, mit Gottfried Benn zu sprechen, „Weinhaus Wolf“, das allerdings nicht in Hannover, sondern, wie kann es anders sein, in Stuttgart steht.

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Dort sitzt und trinkt und träumt ein Mann und ergibt sich dem Gespräch mit den Toten. Doch wenn es bei Hofmannsthal einst hieß: „Es gibt ein Reich, wo alles rein ist, es hat auch einen Namen: Totenreich“, so verbietet sich auch hier wieder die Autorin mit ihrem Sinn für das Unfeierliche jede Reinheitsphantasie: Ihre Toten oder doch die Toten ihres Helden sind nicht ätherische Wesen, obwohl die Neun Chöre der Engel sie durchaus geleiten auf allen ihren Wegen; sie sind aus krummem Holze, machen Krach, gedenken ihrer Liederlichkeit und projizieren das ganze herrliche, wilde, chaotische Leben, das sie einst führten, zurück auf die Erde. Jim Morrison gehört genau so dazu wie Eltern oder abgelegte Geliebte – alle unsterblich, alle aufgehoben im keineswegs nur liebenden Gedenken, aber Material zu jenem bunten Spiel, was wir Erinnerung nennen.

Weil ein Gespräch wir sind

Erinnerung an die Toten: das hat die Religionswissenschaft als den Urgrund aller Kultur herausgearbeitet. Dialogisierende, direkt anredende Erinnerung – so könnte man mit einigem Recht den Schreibimpuls dieser Autorin umreißen, die kulturell, kulturgeschichtlich so aus dem Vollen schöpft, ohne dabei je in den Begriffs-Bijouterie einer Kultur-Schickeria zu verfallen.

Wie jede echte geistige Potenz würde sie sich mit der kümmerlichen Gegenwart niemals begnügen. Sie lebt in beziehungsweise mit der Geschichte. Und reißt dabei die Grenzen ein, ganz im Sinne ihres großen Landsmann Hölderlin aus Lauffen am Neckar: weil „ein Gespräch wir sind und hören voneinander“. Und wir, die wir unter der erfreulichen Wirkung der guten Nachricht stehen, vernehmen die Darmstädter Botschaft und deuten sie wie folgt: Literatur ist preiswürdig, wenn sie die Wirklichkeit transzendiert. Das lässt sich hören. Und wenn man diese Linie weiter ausziehen will, empfiehlt es sich, im nächsten Jahr an Rainald Goetz zu denken. Er ist der andere große unserer Tage.

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