WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Sport
  3. Fußball
  4. Bundesliga
  5. Bayer Leverkusen
  6. Kolumne „Querpass“: Muss Kießling jetzt an den Lügendetektor?

Meinung Kolumne „Querpass“

Muss Kießling jetzt an den Lügendetektor?

Seit dem Phantomtor von Hoffenheim wird diskutiert, ob Stefan Kießling nun ein Schlitzohr ist oder einfach nicht gut sehen kann. Und Bundestrainer Joachim Löw fühlt sich wahrscheinlich bestätigt.

Scharenweise zermartern sich die deutschen Stammtische seit dem Phantomtor von Sinsheim die Köpfe oder schlagen sie sich sogar gegenseitig ein bei der Suche nach einer Antwort auf die kitzlige Frage: Muss Stefan Kießling a) zum Augenarzt, b) zur Beichte oder c) an den Lügendetektor angeschlossen werden – oder geht es zu weit, ihn d) einen schamlosen Schurken zu nennen, dem e) der DFB-Kontrollausschuss wegen krass sportwidrigen Verhaltens den Prozess machen muss? Kießling selbst überlegt noch.

„Es tut mir leid“, hat Leverkusens Kanonier entweder persönlich oder über seinen Facebook-Beauftragten ausrichten lassen, jedenfalls ist er dem sogenannten „Shitstorm“ im Internet ungefähr begegnet mit dem Hinweis, dass er in jenen dunklen Sekunden geblendet war durch die tief stehende Flutlichtsonne, hören wir in seinen O-Ton kurz rein: „Im Spiel habe ich nach meinem Kopfball und dem Drehen des Kopfes nicht genau gesehen, ob der Ball korrekt ins Tor gegangen ist oder nicht. Irgendwie lag der Ball im Tor.“ Das klingt fast nach einer durch das jähe Drehen des Kopfes verursachten Netzhautablösung, wenn nicht gar nach dem Grauen Star im fortgeschrittenen Stadium.

Was weiß Kießling wirklich? Was sagt uns, über Facebook hinaus, seine Körpersprache, seine Mimik, seine Gestik unmittelbar nach jenem Kopfball ans Außennetz? Die Bilder des Fernsehens zeigen uns Kießling, wie er dem Ball hinterherschaut. Enttäuscht dreht er ab, schlägt wegen der vertanen Chance die Hände vors Gesicht, und die Lippenleser könnten beweisen, dass er dabei ein Wort vor sich hinflucht, das mit „Sch“ anfängt und mit „eiße“ aufhört.

Doch dann, ganz plötzlich, neue Bilder. Ein paar Mitspieler fühlen sich ermutigt durch den Ball im Tor und das Verhalten des Schiedsrichters und stürzen sich auf den frustrierten Schützen, als wollten sie sagen: „Stefan, lass uns sicherheitshalber jubeln.“ Stefan bleibt aber zunächst noch zaghaft, eher widerwillig hebt er die Arme, wie von Gewissensbissen geplagt.

Mein Name ist Hase

„Die Bilder sprechen für sich“, sagt Markus Gisdol, Hoffenheims Trainer, der sich seit Freitag ziemlich beschissen fühlt, „und sie sprechen gegen ein paar Leverkusener Kommentare, die hinterher abgegeben wurden“. Vor allem von Kießling. Vor dem Wiederanstoß bekam er seine letzte Chance. „War das Tor nicht korrekt?“, forschte der Schiedsrichter, und wir sehen auf den Bildern, wie Kießling plötzlich den Unsicheren mimte – allerhand spricht dafür, dass er ungefähr antwortete: „Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts.“ Da gab Felix Brych auf – und Kießling wird jetzt nicht gefeiert für das Tor des Tages, sondern beschimpft als der Tor des Tages. „In einem solchen Moment“, sagt Gidsol, „hast du eine Jahrhundertchance als Spieler.“ Und die kannst du verpassen.

Thomas Helmer hat sie auch versaut, anno ‘94, bei der Mutter aller Phantomtore. Übers Wochenende nahm er Kießling in Schutz: „Es geht um Sekunden, und du weißt als Schütze selbst nicht so genau, ob er drin war. Und diese Sekunden entscheiden darüber, bist du jetzt der liebe Junge oder der böse Bube.“ Einspruch: Helmer wusste ganz genau, was er damals tat. Anders als bei Kießling landete sein Ball nicht im Tor, er rollte vorbei. Aber nicht einmal jetzt, bald 20 Jahre nach dem Sündenfall, ringt er sich durch zu dem Satz: Ich war ein kleiner Schlawiner.

Dieses Verdrängen gehört zu Paragraf 1 in der Philosophie des modernen Profis. Spontan fällt uns Manuel Neuer ein: Augenzwinkernd hat der nach dem Sieg über England bei der WM 2010 erzählt, dass er den Ball, der nach Frank Lampards Schuss weit hinter seiner Linie einschlug, blitzschnell wieder ins Spiel gebracht hat, um dem Schiedsrichter nicht unnötig viel Zeit zum Nachdenken zu geben. Wir stellen uns vor, Neuer wäre seiner moralischen Meldepflicht beim Schiedsrichter nachgekommen. Undenkbar?

Denken wir an Manuel Neuer

Nein, es gibt sie, diese letzten Romantiker. Robbie Fowler war so einer, als Stürmer des FC Liverpool. Im Zweikampf kam er einmal zu Fall, und der Schiedsrichter gab Elfmeter. „Ich bin nicht gefoult worden“, sagte Fowler. „Doch“, sagte der Schiedsrichter. Also schnappte sich Fowler den Ball, legte ihn auf den Elfmeterpunkt und schob ihn dem Torwart in die Arme. Ein anderes Mal hat Arsene Wenger, der mit Arsenal nicht ungerecht siegen wollte, ein Wiederholungsspiel erzwungen.

Und gar nicht weglassen dürfen wir an der Stelle Miroslav Klose. Zweimal hat der bewiesen, dass ihm ein Sieg um jeden Preis keine Freude macht. Einmal hat er in der Bundesliga den Schiedsrichter erfolgreich angefleht, einen Elfmeter rückgängig zu machen, und voriges Jahr verhinderte er sein 1:0 für Lazio Rom gegen Neapel, indem er zum Schiedsrichter sagte: „Mir ist der Ball an die Hand gesprungen.“ Das Spiel ging verloren, aber sein Trainer sagte: „Miro hat gezeigt, was ein wahrer Mann ist.“ Was ist Kießling?

Anzeige

Der Bundestrainer saß am Freitag als Augenzeuge auf der Tribüne - und vermutlich hat Jogi Löw spätestens in jener 70. Minute gewusst, warum er den Platz in der deutschen Sturmmitte selbst in Zeiten des personellen Engpasses nicht notbesetzt, sondern freihält für Miro Klose. Kießlings Phantomtor war ein Schuss ins Knie, nicht nur ins eigene.

„Wir müssen für Gerechtigkeit sorgen“

Dieser Tage hat sich auch Hans-Joachim Osmers wieder gemeldet, der seinerzeit auf Helmers Hackentrick neben das Tor hereinfiel und als pupillengetrübte Pfeife dastand wie jetzt Brych. Osmers sagt: „Kießling hat ganz klar erkannt, was los war – da siehst du, dass die ganzen Fair-Play-Kampagnen der Verbände wohl nichts wert sind.“

Ins gleiche Horn bläst Gisdol: „Es reicht nicht, Fair-Play-Aktionen zu starten und Plakate hochzuhalten. Wir müssen für Gerechtigkeit sorgen. Das ist Fair Play.“ Stattdessen werden flammende Fensterreden gehalten, mit Worthülsen und Sprechblasen, die immer dann platzen, wenn sie auf den Prüfstand gestellt werden – so wie jetzt. Wird das Spiel wiederholt? „Alles andere wäre ein Witz“, sagt Gisdol im Namen des gesunden Menschenverstandes.

Der Videobeweis hätte helfen können, auf den wir ja schon seit kurz nach dem Krieg warten. Er hätte auch diesmal geschwind allen aus der Patsche geholfen, ein kurzer Blick auf den Monitor, und Brych stünde jetzt nicht da als blinde Bratwurst und Kießling nicht als schräger Strolch. In seinem vorläufigen Schlusswort hat er sich so verteidigt: „So zu gewinnen, das ist natürlich nicht schön. Fairness ist wichtig für den Sport, bei uns im Verein und für mich ganz persönlich.“

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema