WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Panorama
  3. Gefährlicher Darmkeim: Die vier wichtigsten Theorien zum EHEC-Ausbruch

Panorama Gefährlicher Darmkeim

Die vier wichtigsten Theorien zum EHEC-Ausbruch

Empfohlene Maßnahmen zur Vorsorge Empfohlene Maßnahmen zur Vorsorge
Empfohlene Maßnahmen zur Vorsorge
Quelle: Won
Immer neue Thesen zur Entstehung des gefährlichen Darmkeims EHEC werden bekannt. Auch Biogasanlagen kommen in Frage. Denn hier entstehen Bakterien, die es zuvor nicht gab.

Der Leiter der Agrar- und Veterinär-Akademie aus dem münsterländischen Horstmar macht gerade Kurzurlaub in Madrid. Angst vor spanischen Gurken hat Ernst-Günther Hellwig nicht. „Was wir zu Hause in Deutschland nicht mehr kaufen, muss ich jetzt in Spanien wohl alleine aufessen“, scherzt der Mediziner.

Im Urlaub fühlt sich Hellwig sogar sicherer als daheim. Denn der Tierarzt hält die EHEC-Epidemie für ein hausgemachtes, deutsches Problem. „Es ist möglich, dass die EHEC-Erreger aus Biogasanlagen kommen“, warnt Hellwig.

Die boomende Biogasbranche hat Hellwig schon länger kritisch im Blick. Dort hält man ihn für einen Querulanten, der sich ins Gespräch bringen will. Es gebe keinen „belegbaren Zusammenhang“ zwischen der aktuellen EHEC-Epidemie und dem Betrieb von Biogasanlagen“, erklärt der Geschäftsführer des Fachverbandes Biogas.

Das stimmt. Belegbar ist bei der Recherche nach den wahren Ursachen der Seuche bisher wenig. Aber einen Verdacht gibt es schon – und der kommt nicht nur von Hellwig.

So hält es auch der bekannte Labormediziner Bernd Schottdorf, Gründer des mit 1500 Mitarbeitern größten privaten europäischen Medizinlabors Schottdorf MVZ in Augsburg, für möglich, was die Biogas-Lobby als Schnapsidee abtun möchte. Ein Zusammenhang zwischen dem Auftauchen des EHEC-Erregers und der immer größer werdenden Biogasanlagenproduktion in Deutschland sei keineswegs ausgeschlossen, sagt Schottdorf „Welt Online“.

Bakterien, die es zuvor nicht gab

Denn in den Gär-Behältern der Biogasanlagen entstünden Bakterien, die es zuvor noch nie gegeben hätte. „Sie kreuzen sich und verschmelzen miteinander – was da genau passiert, ist weitgehend unerforscht.“ Diese noch nie da gewesene Mischung aus Krankheitserregern werde dann auf die Äcker gebracht. Bis zu 80 Prozent des Gär-Substrats landen wieder als Düngemittel auf den Feldern.

Der Labormediziner Schottdorf hält es „deshalb für dringend nötig, dass die Biogasanlagen in Deutschland schnell auf mögliche Krankheitserreger untersucht werden. Sonst droht möglicherweise die Gefahr, dass wir auch in den künftigen Sommern Epidemien mit bekannten oder neuen Erregern erleben werden.“

Biogasanlagen werden bisher vor allem mit der ökologisch korrekten Energiewende in Verbindung gebracht – doch das Prädikat „Bio“ ist umstritten. Wo eine Biogasanlage entstehen soll, gibt es oft auch eine Bürgerinitiative dagegen. Denn in viele Anlagen zur Gasproduktion wandert nicht nur Mais, dessen intensiver Anbau in der Landwirtschaft unter Ökologen nicht gerade viele Freunde hat. Im Bio-Bottich landen auch Schlachtabfälle, Mist und Gülle.

Damit deren gefährliche Keime abgetötet werden, ist laut EU-Richtlinien eine sogenannte „Hygienisierung“ für Biogasbetreiber vorgeschrieben. Etwaige Erreger, erklärt der Fachverband Biogas, seien nach einer einstündigen Erhitzung des Gär-Substrats auf 70 Grad „mit Sicherheit inaktiviert“.

Anzeige

Aber das wollen Profis wie Hellwig und Schottdorf nicht ohne Weiteres glauben. Auch dieses Gebiet sei nicht überschaubar und weitgehend unerforscht, warnt der Labormediziner. „Sporen überleben die in Biogasanlagen vorgeschriebene Hygienisierung bis 70 Grad ohne Weiteres“, sagt er. EHEC sei zwar kein Sporenbildner – „aber wir wissen nicht, ob die Hygienisierung in allen Biogasanlagen ordnungsgemäß durchgeführt wird“.

Wenn die Restgärmasse auf die Felder gebracht werde, so Hellwig, könne sie auch Gemüse verunreinigt haben – zumal es gerade in Norddeutschland im Frühjahr wochenlang nicht geregnet habe. Das Substrat werde dann nicht von den Pflanzen abgewaschen.

Biogas-Lobby widerspricht

Die Biogas-Lobby widerspricht solchen Theorien, spricht im Falle Hellwigs, der Biogasanlagen auch mit gefährlichen Krankheiten wie „chronischem Botulismus“ in Verbindung bringt, gar von „populistischen Falschaussagen“. Doch schon ein Blick in das Internet-Forum „Biogas-Community“ weckt Zweifel, ob es die Betreiber von Biogasanlagen mit der „Hygienisierung“ immer ganz genau nehmen. „Töte ich durch das Hygienisieren am Ende Biologie ab, sodass ich keine oder kaum Gasbildung im Endlager habe?“, sorgt sich dort ein Lüneburger Bauer.

Der Forums-Moderator erwidert: „Das stellt eigentlich kein Problem dar. Ich beheize meinen Behälter mit einem externen Wärmetauscher, in dem das Substrat kurzzeitig auf >60 Grad aufgeheizt wird. Meine Biologie jedoch ist top in Schuss.“ Ein Forums-Mitglied gibt zu bedenken: „Dann wäre allerdings auch kein Hygienisierungseffekt erreicht.“

Die Kontrolle der rund 6800 Biogasanlagen in Deutschland sei ein „Riesendilemma“ heißt es in Fachkreisen in Berlin, manche Öko-Experten sprechen gar von einer „Abseitsfalle“, in die man mit der Biogaswirtschaft gelaufen sei.

Die Schmutzwasser-Theorie

Der Gießener Veterinärwissenschaftler Georg Baljer hält die Biogasanlagen-Hypothese dagegen für wenig wahrscheinlich. Die lange Trockenheit im Frühjahr aber interessiert auch ihn bei der Ursachenforschung. Er hält es für möglich, dass in dieser Zeit fäkalverseuchtes Wasser auf die Felder gelangte – und so das Gemüse mit dem gefährlichen Erreger in Kontakt kam. Verseuchtes Wasser sei auch die Ursache einer ähnlichen Epidemie in Schottland gewesen, die im Jahr 2000 grassierte, sagt Baljer.

Auch andere Experten stützen den Wasser-Verdacht. Landwirte könnten ihren Gülletankwagen in der Trockenzeit mangels Alternative schnell zur Bewässerung genutzt haben – ohne ihn zuvor sorgfältig zu reinigen. Im Verdacht stünden hier eher kleinere Mischbetriebe, die etwa Milchkühe halten und nebenbei noch etwas Gemüse anbauen. Großbetriebe setzen meist Berieselungsanlagen auf den Feldern ein, heißt es in Behördenkreisen.

Die Antibiotika-Theorie

Anzeige

Der Mikrobiologe Alexander Kekulé, Professor am Universitätsklinikum Halle, ist davon überzeugt, dass der neue, gefährliche EHEC-Erreger durch den unsachgemäßen Einsatz von Antibiotika gefördert worden ist – entweder in einem Krankenhaus oder bei der Viehzucht. „Durch den Einsatz von Antibiotika erzeugen wir bei den Bakterien einen starken Selektionsdruck und beschleunigen die Evolution der Keime. Die E-Coli-Keime können im Darm untereinander Gene austauschen. Und genau dies ist im aktuellen Fall auch geschehen.

Dass ein solch aggressiver Keim eines Tages in Erscheinung treten würde, ist also keine Überraschung. „Davor haben Experten immer wieder gewarnt“, sagt Kekulé. So könne es etwa sein, dass ein Patient in einem Krankenhaus unter einer Antibiotikatherapie den neuen Keim ausgebrütet hat. Wenn ein solcher Patient beispielsweise ein Bauer gewesen ist, dann könnte er nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus seine Kühe infiziert haben. Ebenso denkbar ist es allerdings, dass die neue Kombination aus zwei verschiedenen Erregern sich im Darm eines Rindviehs ergeben hat – ebenfalls gefördert von Antibiotika.

Die Terror-Theorie

Seit dem Ausbruch der EHEC-Erkrankungen in Deutschland ist immer wieder darüber spekuliert worden, ob es sich hier nicht möglicherweise um einen bioterroristischen Anschlag handelt. Der Berliner Hygiene-Experte Klaus-Dieter Zastrow vom Vivantes-Klinikum hält einen Terrorakt für möglich: „Es kann durchaus sein, dass ein Schwachkopf unterwegs ist und denkt, ich bringe mal ein paar Leute um oder verpasse 10.000 Leuten Durchfall“, sagte Zastrow der „Bild“-Zeitung. Insgesamt gilt die Terror-These aber als wenig wahrscheinlich.

Zum einen gibt es bislang kein Bekennerschreiben, was im Falle eines Anschlags zu erwarten wäre. Zum anderen handelt es sich bei dem Erreger um eine ganz neue Kombination aus zwei bekannten Bakterien. Die aufwendige Kreation eines solchen Keims im Biolabor darf man potenziellen Attentätern derzeit wohl noch nicht zutrauen.

Für ihre Zwecke hätte es gereicht, irgendeinen bekannten gefährlichen Keim zu verbreiten. Allerdings sollte man durchaus im Hinterkopf behalten, dass hinter einem atypischen Ausbreitungsverlauf eines bakteriellen Krankheitserregers in der Tat auch das Werk eines Attentäters stecken könnte. Beim EHEC-Erreger, so die meisten Experten, könne dies aber nahezu ausgeschlossen werden.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema