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“Familie ist das existenzielle Problem unserer Nation“

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) – hier bei einem Besuch in einer Sekundarschule – sieht das Thema Familie als „das existenzielle Problem unserer Nation“ Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) – hier bei einem Besuch in einer Sekundarschule – sieht das Thema Familie als „das existenzielle Problem unserer Nation“
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) – hier bei einem Besuch in einer Sekundarschule – sieht das Thema Familie als „das existenzielle Problem unserer Nation“
Quelle: picture alliance / ZB
Die Demografie macht all unsere Errungenschaften zunichte, sagt Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff. Im Gespräch erläutert er Ideen für einen radikalen Kurswechsel der Familienpolitik.

Am Donnerstag will sich der Bundestag mit den jüngsten Beschlüssen der Bundesregierung zur Familienpolitik befassen: Der Grundfreibetrag, der Kinderfreibetrag, das Kindergeld und der Kinderzuschlag sollen leicht steigen, auch Alleinerziehende werden stärker entlastet. Nach Meinung des Regierungschefs von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU), zeigen diese Maßnahmen nicht die politische Wertschätzung, die Familien in diesem Land genießen sollten. Er selbst hat in seinem Bundesland gerade erst ein sogenanntes Familiendarlehen über 25.000 Euro initiiert. Zuzügler, Rückkehrer und Zuwanderer können es etwa für Umzugskosten oder die Wohnungseinrichtung beantragen. Die Zinsen trägt das Land. Ein ähnliches Modell gab es zu DDR-Zeiten.

Die Welt: Herr Haseloff, Sie haben zwei Kinder und vier Enkelkinder. Welchen Stellenwert nimmt die Familie in Ihrem Leben ein?

Reiner Haseloff: Mein Vater hatte neun Geschwister, meine Mutter ebenso. Ich selbst habe zwei Geschwister. Ich erlebe meine eigene Familie als einen wunderbaren stabilen Schutz- und Lebensraum und hoffe, dieses Gefühl konnte ich an meine Kinder und Enkel weitergeben.

Die Welt: Sie haben als DDR-Bürger Ihre eigene Familie gegründet. Würden Sie sagen: Das war damals leichter als heute?

Zumindest hat die DDR uns jungen Familien einen guten Start ermöglicht

Haseloff: Ja und nein. Die Lebensverhältnisse waren zu unserer Hochzeit 1976 sehr dürftig. Damals haben wir noch studiert. Am Ende des Monats hatten wir manchmal nur noch rote Grütze, bis das neue Stipendium kam. Da war es gut, dass meine Eltern jedes Jahr ein Schwein schlachteten. Trotzdem waren wir glücklich.

Und weil es üblich war, früh zu heiraten und früh Kinder zu bekommen, war das auch bei uns so. Es war völlig natürlich, Kinder zu bekommen, trotz Studium, trotz Beruf. Das ist der große Unterschied zu heute. Mittlerweile führen wir seit 40 Jahren eine gleichberechtigte, partnerschaftliche Ehe, in der wir unseren Berufen nachgehen konnten und uns gemeinsam um die Kinder gekümmert haben.

Die Welt: Darf man die DDR im Nachhinein für ihre Familienpolitik loben?

Haseloff: Zumindest hat die DDR uns jungen Familien einen guten Start ermöglicht. Zur Hochzeit gab es einen Kredit über 5000 Ostmark. Davon konnten wir uns Bett und Schrankwand und sonstiges Mobiliar kaufen. Fürs erste Kind wurden 1000 Ostmark erlassen, fürs zweite sogar 1500. Hätten wir ein drittes bekommen, wäre uns der gesamte Kredit gutgeschrieben worden. Das war eine Menge Geld.

Ich habe als Physiker 531 Ostmark netto verdient, meine Frau als Zahnärztin 570. Diese Politik war ein klares Signal: Bekommt Kinder, das lohnt sich! Diese Hilfen haben eine Zeit lang auch dafür gesorgt, dass die Geburtenrate anstieg.

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Die Welt: Nun sind wir knapp 40 Jahre weiter, Deutschland ist wiedervereinigt – und hat die niedrigste Geburtenrate in der EU. Was läuft da schief?

Wer sich auf diese Regeln des Wettbewerbs einlässt, ist oft überfordert. Es gibt kaum noch ein Miteinander von Berufs- und Familienplanung

Haseloff: Der Leistungsdruck heute ist nicht zu vergleichen mit dem Arbeits- und Wirtschaftssystem der DDR, in der es de facto keinen Wettbewerb gab. Ich will die DDR auf keinen Fall zurück. Aber als gelernter Ossi und langjähriger Wirtschaftspolitiker sage ich nach 25 Jahren Wiedervereinigung: Der Markt schafft nicht automatisch familienfreundliche Rahmenbedingungen. Der Arbeitnehmer von heute soll mobil und zeitlich flexibel sein, sodass stabile Schutzräume wie eine Familie nur schwer aufrechterhalten werden können.

Wer sich auf diese Regeln des Wettbewerbs einlässt, ist oft überfordert. Es gibt kaum noch ein Miteinander von Berufs- und Familienplanung. Für viele bedeutet das: entweder Karriere oder Kinder. Wer mehrere Jahre ausgesetzt hat, hat in den seltensten Fällen danach noch Chancen, befördert zu werden. Gerade Politiker wissen, wie schwer es ist, sich vorbildlich um seine Familie zu kümmern.

Die Welt: Mehr als 200 Milliarden Euro investiert Deutschland jährlich in Familien, mehr als 150 verschiedene Instrumente zählen Experten. Warum reicht das nicht?

Haseloff: Von den familienpolitischen Leistungen entfalten nur wenige überhaupt eine klare Wirkung pro Kind. Zugleich hat die Wirtschaft das Thema Demografie ganz klassisch outgesourced. Sie setzt auf Zuwanderung, um den negativen Geburtensaldo auszugleichen. Dieses Verhalten ist auf den ersten Blick sehr effizient und produktiv. Das kann aber nur ein Weg sein, auch weil es langfristig eine stabile gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in den Herkunftsländern gefährdet. Eine Gesellschaft muss grundsätzlich selbst in der Lage sein, ihre Fortexistenz zu sichern.

Die Welt: Was ist zu tun, damit mehr Kinder geboren werden?

Haseloff: Die Politik muss endlich anerkennen, dass das Thema Familie das existenzielle Problem unserer Nation ist. Dass mehr Kinder geboren werden, muss das prioritäre Ziel unserer Politik werden. Wir sind der am höchsten entwickelte Sozialstaat der Welt. Aber das nützt uns nichts, wenn die Demografie am Ende langfristig alle Errungenschaften zunichtemacht. Unsere familienpolitischen Leistungen privilegieren schließlich nicht die Familien, der Staat gewährt lediglich einen gewissen Nachteilsausgleich.

Quelle: Infografik Die Welt
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Die Welt: Wer in diesem Land eine Familie gründet, ist also selbst schuld?

Haseloff: Unter rein ökonomischen Gesichtspunkten ist die Gründung einer Familie nicht attraktiv. Jeder Lebensentwurf ohne Kinder ermöglicht einen höheren Lebensstandard, eine höhere Rente und mehr Freiheit.

Die Welt: Haben Sie eine Idee für eine erfolgreiche Familienpolitik?

Haseloff: Erstens: Es wäre an der Zeit, dass Familienpolitik vom Kind her gedacht wird. Zweitens: Die Wirtschaft muss Arbeitnehmer mit Kindern entlasten, insbesondere bei Arbeitszeiten. Die Unternehmen haben im Vergleich zu anderen EU-Ländern in der Familienfreundlichkeit noch Luft nach oben. Ich vermisse bei der Wirtschaft leider den Ehrgeiz, mit eigenen Ideen in die Diskussion über unser Familienproblem einzusteigen. Vor allen Dingen, wenn ich an die vielen unbesetzten Ausbildungsplätze denke.

Die Welt: Ist der Wunsch von Familienministerin Manuela Schwesig nach einer 32-Stunden-Woche für Eltern bei steuerlichem Lohnausgleich illusorisch?

Haseloff: Die Stoßrichtung ist auf jeden Fall richtig. Es geht doch nur um wenige Jahre, also um fünf bis zehn Prozent des gesamten Erwerbslebens, in denen Arbeitnehmer mit Kindern entlastet werden müssen. Das Verrückte ist ja, dass dieser Vorschlag von Frau Schwesig wie ein Tabu behandelt wird. Die Wirtschaft macht es sich viel zu leicht.

Die Welt: Nun ja, noch beschließt die Politik die Gesetze.

Haseloff: Das Bundesverfassungsgericht sagt hier eindeutig, dass es Nachholbedarf bei Steuern und der Sozialversicherungsgesetzgebung gibt. Da sollten wir nachjustieren. Der Aufwand, ein Kind großzuziehen, ist doch heute viel höher als vor 20, 30 Jahren. Ich sage nur Kita-Gebühren, Schulbuchpreise, Schulranzen für 120 Euro und so weiter. Unser Steuersystem erkennt nicht ausreichend an, welche Kosten die Familien zu tragen haben. Hier muss im Steuersystem weiter zugunsten der Kinder umgeschichtet werden.

Die Welt: Ist das der entscheidende Grund, warum pro Frau nur 1,4 Kinder geboren werden?

Haseloff: Ja, ein Kind ist für Eltern irgendwie noch zu verkraften. Wenn die Eltern merken, was ein zweites Kind finanziell und beruflich bedeutet, vergeht vielen die Laune. Nun könnte man sicher schimpfen, das seien egoistische Eltern. Die Wahrheit aber ist: In anderen Ländern ist bei ähnlichen Lebensverhältnissen die Geburtenrate höher. Wir sollten eine Geburtenrate von 2,1 oder 2,2 Kindern pro Frau anstreben. Es geht um das Überleben unserer Gesellschaft in der Form, wie wir sie kennen.

Die Welt: Nun soll das Kindergeld um vier Euro erhöht werden, ab 1. Januar 2016 um weitere zwei Euro. Wie wirkt das auf Sie?

Haseloff: Erst einmal lobe ich, dass überhaupt mehr Geld für Familien zur Verfügung gestellt wird. Aber vier Euro mehr wirken nicht wie eine Wertschätzung für Familien. Diese Erhöhung lädt zu negativen Reaktionen ein. Nach dem Motto: Das kann man sich auch sparen.

Die Welt: Welche Erhöhung wäre angemessen?

Haseloff: Eine zweistellige Anhebung des Kindergelds wäre ein Signal für die Eltern. Aber machen wir uns nichts vor: Vermutlich wird man weder in dieser noch in der nächsten Legislaturperiode die Familienpolitik so radikal aufwerten, wie sie es verdient hätte. Aber der gesellschaftliche Diskurs über den Wandel muss jetzt beginnen. So lange gilt für Eltern, dass sie sich einer Sache stets sicher sein sollten: Das Glück, Kinder zu haben, ist sowieso unbezahlbar.

Schwesig will mehr Zeit für Eltern

Guter Job und Zeit für die Familie: Das will Familienministerin Manuela Schwesig mit dem Elterngeld Plus möglich machen. Bis zu 28 Monate könnten Eltern in Teilzeit dann Elterngeld kassieren.

Quelle: Reuters

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