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Eine ganze Stadt als Bücherladen

BookCrossing BookCrossing
Quelle: Pressebild.de/ Bertold Fabricius/Pressebild.de/ Bertold Fabricius
Sie nennen sich Bookcrosser und legen an besonderen Orten Bücher ab, für einen Tauschhandel mit Hintergedanken: Das Bookcrossing ist eine Art literarische Schnitzeljagd, eine Internet-Tauschbörse und eine weltweite Online-Bibliothek. Bereits 5000 Hamburger sind registriert. Bookcrosser lassen Bücher frei, anstatt sie im Bücherregal zu horten.

Ein Mittwochabend, 18 Uhr, in einem Café in Eimsbüttel. An einem Tisch vor einem Berg Bücher sitzen sieben Frauen, die äußerlich nicht unterschiedlicher sein könnten, jedoch eine große Gemeinsamkeit haben: In ihrer Freizeit lassen sie Bücher frei. „Suzanne4books“ zum Beispiel setzte Miriam Toews „Ein komplizierter Akt der Liebe“ in einer Filiale von Kentucky Fried Chicken aus, weil den Buchumschlag ein Huhn ziert. „Nordkind“ platzierte „Die Häupter meiner Lieben“ am Störtebeker-Denkmal und „bibo59“ schickte an Stephen Kings Geburtstag „Friedhof der Kuscheltiere“ auf dem Ohlsdorfer Friedhof auf Reisen. „ChaosHamburg“ deponierte vor der Boutique Bizarre an der Reeperbahn ein Erotikbuch. „Brauny203“ hinterließ „Der letzte Halt“ am Hauptbahnhof, und „Dschinny“ legte die Autistenbiographie „Hört mich denn niemand?“ bei den Alsterdorfer Werkstätten ab.

Hinter diesen Namen verbergen sich eingefleischte Bookcrosserinnen. Sie lieben Bücher und sind echte Leseratten – zehn gelesene Bücher und mehr pro Monat sind die Regel. Doch statt sie zu kaufen und anschließend in ihrem privaten Bücherregal „gefangen“ zu halten, lassen sie sie frei. Sie verteilen Bücher in der ganzen Stadt, und zwar an Orten, die auf direkte oder indirekte Weise einen Bezug zum Werk herstellen.

Literarische Schnitzeljagd

Zwar sind rund 5000 Hamburger als Bookcrosser registriert, doch gehören nur 30 Prozent von ihnen zum aktiven Kern. Bookcrossing ist eine Art literarische Schnitzeljagd, eine Internet-Tauschbörse und eine weltweite Online-Bibliothek. Weltweit sind etwa 750000 Menschen registriert. Im Internet ( www.bookcrossing.com ) hinterlassen die Bücherwürmer eine Fährte, damit Gleichgesinnte sich auf die Jagd machen und die freigelassenen Bücher finden, lesen und wieder in die Freiheit schicken können. „Damit das funktioniert, kleben wir einen Hinweis auf das Buch“, sagt „Suzanne4books“. Darauf steht dann: „Ich bin ein frei laufendes Buch. Bitte nimm mich mit, ich suche einen neuen Leser.“ Jedes Buch ist mit einer Registriernummer versehen. Über diese Nummer können die Jäger und Sammler sehen, ob ihre Bücher gefunden und weitergegeben wurden und wo sie sich befinden. In Hamburg wurden schon Tausende von Büchern abgelegt.

So unterschiedlich wie die Titel – vom Bestseller über Klassiker, unbekannte Favoriten, alte Meister, Schmachtfetzen oder Koch- und Bilderbücher –, sind auch die Orte: Auf der Ablage eines Bankautomaten, im Regal in einer Koje auf der „Rickmer Rickmers“, auf einer Museumsbank, im Korb eines Mietfahrrads oder auf einem Platz in der U-Bahn. „Grundsätzlich legen wir die Bücher überall aus, außer an Flughäfen – wir wollen nicht, dass herrenlose Bücher unnötige Räumungen auslösen“, erklärt „Dschinny“.

Bücher tauschen und Menschen treffen

In ihrem alltäglichen Leben trennen die sieben Frauen Welten. Bei ihren Treffen, die rund einmal im Monat in Cafés stattfinden, berühren sich diese. Viele Bücher lesen sie erst mal selbst, manche setzen sie gleich aus. „Aussetzen? Tiere werden ausgesetzt, Bücher werden freigelassen und gehören dann allen“, stellt „Suzanne4books“ klar. Doch zum Typ „scheue Einzelgängerin“ zählt keine der Anwesenden. Im Gegenteil: „Das Schöne am Büchertauschen ist, dass man nicht nur schöne Bücher findet, sondern auch auf interessante Leute trifft, die man sonst wahrscheinlich nie kennengelernt hätte“, sagt „Brauny“. Wo sonst trifft eine Filmcutterin auf eine Bibliothekarin, eine Strafverteidigerin auf eine jobsuchende Grafikerin?

Die Gründe, warum sie sich mit dem Bookcrossing-Virus infiziert haben, sind ähnlich: „Zum einen können wir unseren doch recht hohen Verbrauch an Büchern kostengünstig stillen“, sagt „Brauny“. „Außerdem kommt man in Berührung mit tollen Büchern, die man sonst nie gelesen hätte!“, fügt „Nordkind“ hinzu. Und natürlich stehen alle hinter dem übergeordneten Prinzip: teilen statt behalten. „Bücher sind ein Stück Kulturgut, und wir machen dieses Kulturgut kostenfrei für jeden zugänglich!“, so „bibo59“. Die Stadt, das Land, die ganze Welt als überdimensional großes Bücherregal.

Doch meistens verliert sich die Spur eines Buches. Nur etwa zehn Prozent der Finder tragen das gefundene Buch ein. Wer meint, für die Verlage seien die international organisierten Bücherwürmer ein rotes Tuch, der irrt. „Letztendlich kaufen wir alle mehr Bücher, weil wir jene Bücher, die wir ins Herz geschlossen haben, behalten wollen“, so „Nordkind“. Manche Bücher wandern an das andere Ende der Welt, wie „ChaosHamburg“ berichten kann. „Ich habe mal eins in einem New Yorker Hostel freigelassen, und ein Jahr später wurde es auf dem Taj Mahal gefunden“, erzählt sie.

So weit die Theorie. Aber wie ist es, wenn man ein Buch dann einfach liegen lässt? „Am Anfang fühlt sich das merkwürdig an, weil man denkt, man würde etwas Verbotenes tun“, sagt „Suzanne4books“. Der Profi-Tipp: Am besten das Buch so auffällig und bewusst liegen lassen, dass die Leute gar nicht denken können, man habe es vergessen. „Ist das Ihr Buch?“, diese Frage kennen die sieben nur zu gut. Die Antwort kommt also prompt: „Nein, das ist nicht mein Buch. Nicht mehr!“

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