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Alle Wege führen nach Rom

Unsere Serie zu Grenzerfahrungen: Tramper? Gibt’s die noch? Wettrennen per Anhalter durch Europa

Sind Sie schon mal in zwei Tagen von Berlin nach Rom per Anhalter gefahren? Für unsere Reporter Nils und Simon ist es der erste Versuch. Denn die beiden wollen herausfinden, ob Trampen neben günstigen Bahn- und Bus-Tickets und unzähligen Mitfahrgelegenheiten noch funktioniert. Weil im Sommer Trampen etwas für Urlauber ist, geht es für sie mitten im Winter los. Das Ergebnis ist ein Wettrennen von Berlin nach Rom. An einem Freitag im Januar um 21:00 Uhr starten Simon und Nils am Rasthof Grunewald in Berlin, der Auffahrt zur A115 in Richtung Leipzig und Magdeburg.

Freitag: 21:00 bis 24:00 Uhr

Simon: Ich stehe einsam in der Dunkelheit und wedele mit meinem Pappschild auf dem Parkplatz herum. Zum Aufwärmen gehe ich in die Tankstelle: „Sie dürfen sich am Eingang in die Ecke stellen, aber setzen Sie sich nicht auf die Heizung“, meckert die Kassiererin und fügt trocken hinzu: „In zwei Stunden schließen wir sowieso, dann geht hier gar nichts mehr.“ Dann passiert es: Um 23:00 Uhr rollt ein weißer Transporter auf mich zu. Ich laufe auf die Straße und stelle mich auf der Fahrerseite vor das Fahrzeug. Im Bus sitzt Frank (46) aus Weinolsheim bei Mainz, der in Berlin die „Grüne Woche“ besucht hat. Er ist skeptisch. „Nur, dass wir uns richtig verstehen, bei mir werden keine krummen Dinger gedreht“, sagt er, als ich zur Tür reinschaue. Ich muss Überzeugungsarbeit leisten. Fünf Minuten später sitze ich auf dem Beifahrersitz, wir rumpeln die Auffahrt der A115 in Richtung Leipzig hinunter, und er fängt laut an zu singen.

Nils: Die Strecken wiederholen sich zwar, aber jeder Tramper muss sie sich anders erkämpfen als seine Vorgänger. Ich kämpfe nicht, ich schwebe gerade. Schon nach einer halben Stunde wurde ich mitgenommen und bis kurz hinter Leipzig gebracht. Meine neue Raststätte heißt jetzt Bad Dürrenberg, und es ist einsam. Kliniklicht über der Bistro-Kasse inszeniert die letzten Croissants in der Auslage. Von hier muss man schnell weg.

Samstag: 24:00 bis 9:00 Uhr

Simon: Es ist fünf Uhr morgens, ich bin allein, und keiner will mich haben. Es ist kalt, gefühlt minus 20 Grad. Es ist ungemütlich, Neonlicht taucht die Raststätte Köckern West auf der A9 bei Leipzig in kaltes Licht. Es war eine schöne Fahrt mit Frank. Schön – aber kurz.

Auf der Raststätte herrscht in dieser Nacht eine irritierend romantische Endzeitstimmung. Schnee treibt zwischen den Zapfsäulen über den Asphalt, die grelle Neonbeleuchtung taucht die Szenerie in ein unwirtliches, unwirkliches Licht, das direkt hinter dem Kantstein von der Dunkelheit aufgesogen wird. Wie ein letztes Fleckchen Zivilisation in einer verlorenen Welt steht die hässliche Raststätte mit dem metallisch klingenden Namen „Köckern West“ im Nichts. Das Autobahnrauschen verschluckt jeden abschweifenden Gedanken und erinnert an das Ziel meiner Reise – die Straße.

Nach zwei Stunden fühle ich meine Füße, Beine und Hände nicht mehr. Trotzig halte ich mein Schild, auf dem „MUC“ und „SÜDEN“ stehen, in den eisigen Wind.

Ein grauschwarzer Audi A4 rauscht auf die Tankstelle. Litauer Kennzeichen. Aus dem Auto steigt ein Hüne. Er tankt und geht mit strammen Schritten in Richtung Raststätteneingang, vor dem ich mich postiert habe. Ich hebe mein Schild und frage: „Going south?“ Ohne Antwort verschwindet er in der Raststätte. Er kommt raus, geht zurück zum Auto und spricht mit dem Beifahrer. Dann winkt er mir zu. Ich darf mit, nächster Halt: München.

Nils: Es geht weiter Richtung Schweinfurt. Ich steige zu Nino, einem jungen rotbärtigen Security-Manager, in seinen schwarzen Ford Fiesta. Er kommt gerade aus Rostock, sein Großvater wurde beerdigt. Ich frage ihn, ob er oft mit Trampern fährt. „Wer nett fragt und nicht schlecht riecht, den nehme ich mit“, sagt er und ascht versehentlich mit seiner Zigarette auf den vorstehenden Bauch. Deo habe ich benutzt, ich bin wohl bis Schweinfurt sicher.

Samstag: 9:00 bis 17:00 Uhr

Simon:

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Jetzt ist es Samstagmorgen und auf der Raststätte Vaterstetten-Ost vor den Toren Münchens ist ordentlich was los. Familien, Reisegruppen und Fernfahrer geben sich die Toilettentürklinke in die Hand. Dann sehe ich durch das Fenster der Raststätte, dass Lastwagen um Lastwagen den Parkplatz verlässt. Mein Kaffee ist noch halb voll, mein Magen halb leer. Wer trampt, braucht gutes Timing. Als ich raus komme, sind die Lkw weg.

Ich laufe über den Parkplatz, mein Schild schwenkend, auf dem jetzt „Verona“ und „ITALIA“ stehen. An einem Kantstein stehen acht Jugendliche und urinieren simultan in die Büsche.

„Ich bin der Bomber“, sagt einer der Jugendlichen, streckt mir die Hand hin und fragt mich, wo ich her komme. Kurz darauf stehe ich im Reisebus der Katholischen Landjugendbewegung Adelzhausen. Augustiner in der einen, Gin Tonic in der anderen Hand und bin wieder gen Süden unterwegs. Aus den Boxen knallt: „Willst Du mit mir Drogen nehmen?“ 40 Kilometer und drei Kurze später, steige ich wieder aus. Den Weißbiergeschmack noch auf den Lippen, höre ich, wie neben mir ein Sattelzug mit lautem Zischen anhält. „Hey! Kannst Du kurz den Müllbeutel in den Eimer schmeißen?“ „Sicher!“ – dann klettere ich die Stufen ins Führerhäuschen. Christian bringt heute Milch nach Verona und mit der Milch auch mich. „Früher waren wir eine wilde Truppe, räudige Hunde, jetzt ist es nur noch Stress.“ Zwischen Zwangspausen, Kilometerbegrenzungen, Überholverboten über Hunderte Kilometer, Hungerlöhnen und Sprachbarrieren sind die einstigen „Könige der Straße“ zu meinungslosen Kurierfahrern degradiert worden.

Trampen: Es ist das Reisen ohne Abfahrtsplan, ohne Sitzplatzreservierung und ohne Tomatensaft mit Salz und Pfeffer. Es ist der Urlaub um des Reisens willen und nicht andersherum.

Nils: Innsbruck Nord hat kein Erbarmen. Ein österreichisches Pärchen schaut betreten auf den Boden, als ich mich mit meinem Reiserucksack nähere. Es beginnt zu schneien. Ich setze meine rot-weiß-blaue Bommelmütze auf. Seit sechs Stunden halte ich schon meine Kartons mit den Reisezielen hoch. Nichts, niemand.

Dann endlich! Nachdem ich mich als Journalist ausweisen kann, erbarmt sich Susi, eine 47-jährige Dame im schwarzen Mantel. Sie kann mich nur genau 20 Kilometer mitnehmen, bevor ich Richtung Brenner abbiegen muss. Aber das ist mir egal. Hauptsache, ich bewege mich.

Samstag: 17:00 bis 22:00 Uhr

Simon: Wir überfahren die Grenze. Wir sind in Italien. Genau zwölf Stunden nach der Nacht in Köckern West atme ich italienische Alpenluft. Es geht weiter, bis nach Verona. Hier wohnt Christian, und hier muss auch die Milch hin. Der Abschied in der Abendsonne auf einer Tankstelle fällt schwer. Ich kann kein Italienisch, wie soll das weitergehen?

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Einen Satz habe ich auswendig gelernt: „Sta andando in direzione di Roma? – Fahren Sie Richtung Rom?“. Ich spreche jeden an, der an mir vorbeiläuft. Dann erzählt mir ein Italiener, dass Trampen in Italien illegal ist. Kurz darauf spricht mich Freddy an. Auch Freddy ist Fernfahrer und heute auf dem Weg nach Florenz. Perfekt. Er macht zu meinem Glück gerade Zwangspause, dann geht’s in seinen DAF.

„Es ist das alte Klischee von Freiheit. Auch wenn einem die ganze neue Technik und die Billiglöhner den Spaß verderben wollen, wenn ich auf der Straße bin, bin ich ein freier Mensch.“ So hatte es auch Christian formuliert. Ein bisschen Fernfahr-Romantik ist also doch geblieben.

Nils: Innsbruck Ost. Sechs Autos stehen brav aufgereiht vor mir. Zehn Leute frage ich pro Stunde. Ich arbeite an seriöseren Ansprachen. „Guten Tag, Nordmann mein Name. Fahren Sie zufällig ein Stück gen Süden?“ Ein weiß lackierter Hummer biegt ein. Absage. Das hippe Pärchen aus Polen hat zu viel Ski-Equipment auf der Rückbank. Zumindest die tschechische Familie mit der Tochter, die sich immer nach mir umdreht, diskutiert noch im Jeep, ob sie mich nicht doch einladen sollte. Zu mehr reicht es gerade nicht. Die Anstrengung hat Zornesfalten zwischen meine Augenbrauen gemeißelt. Anstatt gewinnend zu lächeln, kann ich nur noch angestrengt grinsen, wenn ich Fahrer anspreche. Von Innsbruck Nord nach Innsbruck Ost in acht Stunden. So etwas muss mir erst mal ein Tramper nachmachen. Ich gehe zum gegenüberliegenden Fachwerkhaus, ein Restaurant. Bewegungsmelder verstärken das Licht, als ich an den Zapfsäulen vorbeilaufe. Scheinwerfer an: Hier reist ein Tramper auf seine unnatürlichste Art. Zu Fuß.

Samstag/Sonntag: 22:00 bis 5:00 Uhr

Simon: Bei Florenz verabschiede ich mich von Freddy. Jetzt bin ich circa 24 Stunden unterwegs. Nur noch 300 Kilometer trennen mich von Rom. Schaffe ich es sogar heute noch?

Sieben Stunden später stehe ich immer noch an der gleichen Stelle. Inzwischen ist es Sonntag. Inzwischen habe ich mich mit dem Tankstellenwart Francesco angefreundet und döse im Hinterraum auf einem Plastikstuhl, von dem aus ich den Parkplatz im Blick habe. Es bewegt sich nichts.

Nils: Meine Bommelmütze lasse ich aufgesetzt, als ich in die Gaststätte einkehre. Es ist spät. Das Kellner-Pärchen will mich nach Schichtende bis kurz vor den Brenner mitnehmen. Ich lehne ab. Mit Kurzstrecken-Tramps habe ich mich ja schon gründlich verzockt. Ein fröhlicher Skilehrer mit Vokuhila-Ansatz spricht mich an, als ich von der Toilette zurückkomme. Ich bin wieder in der Spur, mein Feuer ist zurück. Der Fahrer der Gruppe, Tomek, jagt seinen weißen Opel Astra die Brennerautobahn auf Ideallinie herunter.

Sonntag: 5:00 bis 12:00 Uhr

Simon: In meiner Frustration esse ich Francescos Backwarenauslage leer. Dann habe ich Glück: Drei Italienerinnen helfen mir bei der Sitzplatzsuche. Und tatsächlich, zwei Stunden später, es ist inzwischen 7.00 Uhr morgens, geht es weiter. Ugo (42), Zeitungskurier aus Rom, der gerade die „La Gazzetta“ nach Florenz gebracht hat, nimmt mich in seinem Ford Transit mit zurück.

Und dann ist es tatsächlich vollbracht. Nach 36 Stunden und ungefähr 30 Minuten stehe ich vor dem Kolosseum. Übernächtigt, aber glücklich, und von den lauen Mittelmeertemperaturen aufgewärmt, bestelle ich mir in der römischen Morgensonne einen Espresso.

Nils: Kurz vor Trient. Ich bin seit über 40 Stunden wach. Nicht mal am Kaffeetisch kann ich mich anlehnen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. „Ich will mal schlafen“, schreibe ich Simon. „Ich will nach Hause“, antwortet er. Später rauscht ein schwarzer BMW in die Haltebucht. Ein Mann im Fellmantel steigt aus und bietet mir sofort an, mitzufahren. „Es geht nach Rom. Steig ein, mein Freund“, sagt er und verschwindet im Bistro der Tankstelle. Matchball. Ich steige in den Schlitten. Drinnen wecke ich einen zweiten Mann, der zu viel Parfüm trägt und sich nicht vorstellt. „Wir machen Geschäfte in Rom“, sagt er, während er auf dem Navigationssystem im Klappspiegel herumtippt. Geschäfte erledigen. Mich überwältigt ein ungutes Gefühl. Ich steige wieder aus, begegne noch dem anderen Typen, der mit drei Halbliter-Plastikbechern voller Kaffee zurückkehrt. Er nickt mir verständnisvoll zu. Genug Erfahrungen gesammelt. Mit zwei Südtirolern trampe ich zurück nach Bolzano und kaufe mir ein Zugticket nach Rom. Ich setze mich ins Abteil, zum Schlafen, ziehe mir die Bommelmütze ins Gesicht. Trotz Zugfahrt verliert Nils das Wettrennen durch Europa. Simon ist als Erster in Rom. Für einen Espresso reicht die Zeit, dann geht es gemeinsam gen Norden.

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