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Schreibt diese Frau gerade „homophobe Schlampe“?

Hetze ist heute ja so bequem: Man braucht nur ein hübsches Notebook und eine Tasse Kaffee Hetze ist heute ja so bequem: Man braucht nur ein hübsches Notebook und eine Tasse Kaffee
Hetze ist heute ja so bequem: Man braucht nur ein hübsches Notebook und eine Tasse Kaffee
Quelle: Getty Images
Eine Kolumnistin sagt etwas Unkluges zu einer Schwulenhochzeit, und das Internet stellt sie an die Wand. Haben die Rächer der Menschenrechte vergessen, dass hinter den Bildschirmen Menschen sitzen?

„Schlampe.“

„Sollte man verbrennen.“

„Faschistenschwein!“

„Feuern! Sofort!“

Diese Bezeichnungen stammen von Posts in meinem Facebook-Newsfeed. Freunde haben sie geschrieben. Teils Akademiker. Es sind nur einige der Formulierungen, mit denen Barbara Eggert angegangen wurde. Die Soziologin hatte in der vergangenen Woche mit ihrer Ratgeberkolumne im „Westfalen-Blatt“ für Furore gesorgt. Dort bestärkte sie einen Familienvater, dem unwohl bei dem Gedanken war, seine Töchter mit zur Hochzeit seines schwulen Bruders zu nehmen. Zitat: „Ich gebe Ihnen Recht, Ihre Töchter würden durcheinandergebracht.“

Im Jahr 2015 befremdet diese Haltung. Seitdem grollt Empörung durch die Presse und die sozialen Kanäle, ein neues Opfer für den Onlinepranger ist gefunden, hurra, die Steuererklärung kann warten!

Eggerts altbackene Äußerung ist ein gefundenes Fressen für alle, die für das Gute kämpfen. Sie wissen schon, die, die sich darauf geeinigt haben, was richtig ist: Windenergie, Frauenquote, regionales Gemüse. Ihre Festung ist wärmegedämmt, ihre Überzeugung kompostierbar. Man hält sich, vielleicht als Relikt der ewigen Opposition, allein aufgrund der Glaubenssätze nach wie vor für übergangen und in der Minderheit, pöbelt deshalb umso lauter und härter in den sozialen Netzwerken. Und das, obgleich die meisten ebenjener Überzeugungen längst im bürgerlichen Mainstream etabliert sind. So weit, so redundant.

Es geht nicht um links oder rechts

Weitaus interessanter ist, dass vage politische Überzeugungen plötzlich nicht mehr nur Pegida-Rüpeln als Rechtfertigung für menschenverachtendes Benehmen dienen, sondern auch denjenigen, deren politische Agenda es gebietet, für die Rechte von Minderheiten zu kämpfen. Aber eben nur, solange die Minderheit nicht so klein ist, dass sie zum Individuum wird. Einzelne werden angegriffen, zerlegt, bespuckt, um für das Große zu kämpfen. Auf die Befindlichkeiten von Menschen wie Barbara Eggert kann beim Kampf um das „Richtige“ offensichtlich keine Rücksicht genommen werden.

Dabei ging es in der Ratgeberkolumne des „Westfalen-Blatts“ nicht um einen großen politischen Diskurs. Es ging nicht um Schwulenrechte. Es ging schon gar nicht um links und rechts.

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Die Hetze gegen Barbara Eggert wird zur politischen Frage erhoben, dabei geht es doch performativ um etwas ganz anderes: Anstand.

Wer sich und sein Verhalten in einer dreidimensionalen Welt verankern will, darf nicht nur nach links und rechts, sondern muss auch nach oben und unten schauen.

Theoretisch sind alle für Toleranz

Barbara Eggert zumindest hat durch ihre sehr konservative Äußerung nicht nur ihr Ansehen verloren. Der Druck auf die offenbar vollkommen rückgratlose Redaktion wurde schnell zu groß, dem Printjournalismus geht es schlecht genug. Man feuerte Eggert, obgleich einer Redaktion ja üblicherweise Texte vorgezeigt werden, bevor sie im Blatt landen. In diesem Fall wurde der Text sogar nachträglich redigiert, Sätze wurden gestrichen. Eggert hat durch eine Sichtweise abseits des Mainstreams ihren Job verloren.

Darüber wird hinweggesehen, alles im Namen des Guten. Schließlich kämpft der „Schlampe“-Spucker ja für hehre Ziele: Die Liebe! Die Schwulenrechte! Letztlich: Die Würde des Menschen!

„Kündigen. Sofort.“

Wer solche Posts verurteilt, wird schnell unfreiwillig den dunklen Mächten zugeteilt, den Siths, den Slytherins also. Es scheint paradox: Die Hetze auf Eggert wurde vor allem von Menschen vorangetrieben, die sich theoretisch für Toleranz einsetzen, praktisch aber jedes menschenwürdige Benehmen für ein paar Likes unter ihrem Post hinschmeißen.

Wer Teil der Hetze ist, der ist zumindest Teil von irgendwas. Es ist kalt da draußen.

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Ehemals fortschrittliche, mittlerweile etablierte Überzeugungen scheinen als Freibrief zu dienen, sich zu benehmen wie der letzte Mensch.

Anstand, ein Wort wie Pfeifenqualm

Ein Text über Anstand ist ungefähr so uncool wie ein T-Shirt mit der Aufschrift „Bier formte diesen wunderschönen Körper“. Allein das Wort: Anstand! Das klingt staubig, alt, vergangen. Qualm von Großvaters Pfeife. Ein vergilbtes Buch. Man kann keinen Anstand mehr verteidigen, ohne automatisch dem konservativen Lager zugeteilt zu werden. Dabei ist doch intuitiv jedem klar, der sein Verhalten länger als für die Dauer des Drückens eines Like-Buttons hinterfragt, was situativ richtiges und falsches Verhalten ist.

Eggert hat nichts Menschenverachtendes von sich gegeben, sondern höchstens einen sehr konservativen, vielleicht etwas ignoranten Rat erteilt. Sie daraufhin als „Missgeburt“ zu diffamieren und Onlinepetitionen für ihre Kündigung ins Leben zu rufen, ist nicht richtig. Kann nicht richtig sein. In keiner Überzeugung, aber insbesondere nicht in einer, die sich Humanismus und Toleranz auf die Fahne schreibt. „Was für eine menschenverachtende Fotze“ – das ist nichts anderes als eine paradoxe und dumme Äußerung. Es ist bösartig, es ist falsch, vor allem aber ist es nur ein Post unter Tausenden.

Viele scheinen zu denken, ihre Facebook-Posts und Tweets würden nicht wahrgenommen, seien folgenlos. Das mag im Einzelnen stimmen, nicht aber in der Masse. Der erste Satz, den Eggert einige Tage nach dem Shitstorm in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ sagte, war: „Mir geht es nicht gut.“

Meist sitzen die Verfasser der Tweets nicht wutschnaubend vor ihrem MacBook, sie stehen mit dem Handy in der Hand vor der Musikschule und warten darauf, dass ihr Elias aus dem Flötenunterricht kommt

Woher kommt diese Ungnade? Ist den Leuten einfach nicht klar, dass ihr unbedachtes Mitmachen bei einer Hetze Menschenleben zerstört? Gibt es einfach noch kein Bewusstsein dafür, dass jeder hasserfüllte Tweet Teil der kollektiven Wahrnehmung wird? Ist in 140 Zeichen einfach nicht genug Platz für Reflexion, reicht es nur für Häme, Gemeinheit und Unnachgiebigkeit? Und warum wird das mit Likes und Retweets belohnt?

Sind diese Emotionen überhaupt echt? Meist sitzen die Verfasser von Tweets wie „Kündigen! Sofort!“ ja nicht wutschnaubend vor ihrem MacBook, sondern stehen mit dem Handy in der Hand vor der Musikschule und warten darauf, dass ihr Elias aus dem Flötenunterricht kommt.

Das Internet ist Verstärker, im Guten wie im Schlechten. Aber es scheint auch blind zu machen für das Individuum, das im Auge des Shitstorms steht. Das ist gefährlich: Es macht Meinungsäußerung abseits des Mainstreams schlussendlich nur noch für die möglich, die bereit sind, für ihre Überzeugungen zu bezahlen und Reaktionen wie „Man sollte dich vergasen“ zu ertragen.

Zeit für Zärtlichkeit

Es kommt uns die Zärtlichkeit abhanden. Seid verdammt noch mal freundlich zueinander! Lebt eure Werte und Überzeugungen performativ aus, indem ihr gütig seid, verzeihlich seid, Partei ergreift für Menschen, selbst wenn diese nicht eure politische Meinung teilen!

Das Internet ist zu schön, um globaler Stammtisch zu werden. Es bietet Raum für Gnade, für Freundlichkeit oder auch einfach für Zurückhaltung. Es ermöglicht freien Zugang zu Inhalten, um sich umfassend eine Meinung zu bilden, ohne sie sofort in 140 Zeichen in die Welt kotzen zu müssen. Es ist eigentlich sehr einfach: Hinter Bildschirmen sitzen Menschen. Und Menschen, das sind die, die uns gezeugt haben, uns Lesen beibringen und Kamillentee kochen, wenn wir krank sind. Sie schreiben Liebesbriefe. Sie haben Schokolade und Penicillin erfunden. Sie stolpern, straucheln, reden Quatsch, äußern sich ungeschickt, machen Unsinn, große Fehler. Manche davon öffentlich. Das darf kein Grund sein, ihnen das Leben zur Hölle zu machen. Und jeder, der mithetzt, tut nicht weniger, als genau das. Alles im Namen des Guten, natürlich.

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