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Europa "Eine Protestwahl hätte auf den Lissabon-Vertrag keinen Einfluss"

Stell dir vor, es sind Wahlen, und keiner geht hin: Lüder Gerken, Direktor des Freiburger Centrums für Europäische Politik, erklärt im Interview mit SPIEGEL ONLINE, welche Bedeutung die Europawahl hat - und wie groß der europäische Einfluss auf das Recht der Mitgliedstaaten heute schon ist.

SPIEGEL ONLINE: 2004 stimmten nur 43 Prozent der wahlberechtigten Deutschen bei der Europawahl ab. Für 2009 zeichnet sich jetzt Umfragen zufolge eine noch geringere Wahlbeteiligung ab. Entspricht dies der tatsächlichen Bedeutung dieser Wahlen zum europäischen Parlament?

Gerken: Das geringe Interesse der Bürger am Europäischen Parlament steht in umgekehrtem Verhältnis zu seiner politischen Macht. Darüber kann man sich schon Sorgen machen.

Ein Europawahlkampf-Plakat der CDU mit der Aufschrift "Die Mehrheit der Deutschen denkt: Europawahl ist scheißegal!": Sorgen über die Wahlbeteiligung

Ein Europawahlkampf-Plakat der CDU mit der Aufschrift "Die Mehrheit der Deutschen denkt: Europawahl ist scheißegal!": Sorgen über die Wahlbeteiligung

Foto: DPA

SPIEGEL ONLINE: Welchen tatsächlichen Einfluss hat das Europaparlament auf die europäischen Rechtsakte?

Gerken: Von wichtigen Ausnahmen wie Steuern, Agrarmarktordnungen und Arbeitnehmerrechten einmal abgesehen, die allein dem Rat vorbehalten sind, ist das Parlament auf fast allen Gebieten der wirtschaftsrelevanten Gesetzgebung gleichberechtigter Mitgesetzgeber. Eine Merkwürdigkeit der EU ist es allerdings, dass nur die Kommission Gesetzgebungsvorschläge machen darf. Dass das Europäische Parlament weder über Initiativrechte noch über wirksame Mittel zur parlamentarischen Kontrolle der Kommission verfügt, unterscheidet es deutlich von nationalen Parlamenten.

SPIEGEL ONLINE: Welchen Einfluss hat das EU-Parlament auf die Entwicklung der EU insgesamt, etwa auf die weitere Demokratisierung?

Gerken: Bisher spielt das Europäische Parlament bei Änderungen der Verträge unmittelbar keine Rolle. Nach dem Vertrag von Lissabon hätte das Europäische Parlament hingegen erstmals Mitspracherechte bei weiteren Vertragsänderungen. Ob das Europäische Parlament mit weiteren Stärkungen seiner Macht rechnen darf, hängt aber vor allem davon ab, welche Legitimation es sich in den Augen der Bürger Europas durch seine Arbeit erwirbt.

SPIEGEL ONLINE: Könnten die Bürger also mit ihrer Wahl auch beeinflussen, in welche Richtung sich die Europäische Union künftig insgesamt entwickelt?

Gerken: Auch wenn die aus nationalen Parlamenten bekannte Lagerbildung im Europäischen Parlament noch wenig ausgeprägt ist, ist es doch nicht bedeutungslos, ob das bürgerliche Lager oder eine Koalition links der Mitte eine Mehrheit der Sitze erringt. Durchaus folgerichtig hat ja auch die sozialistische Fraktion mit dem Gedanken gespielt, einen Gegenkandidaten zum Kommissionspräsidenten Barroso aufzustellen. Für die europäische Demokratie ist es bedauerlich, dass es dazu nicht gekommen ist.

SPIEGEL ONLINE: Ist die Europawahl auch ein indirektes Votum über den Vertrag von Lissabon, über den die deutschen Bürger ja - anders als die Iren - nicht abstimmen durften?

Gerken: Ich denke nicht. Nicht nur, weil das Europäische Parlament darauf gar keinen Einfluss hat, sondern auch, weil kaum ein Bürger die mit dem Vertrag einhergehenden Veränderungen kennt. Wie bisher immer geht es auch bei dieser Europawahl vor allem um die Mobilisierung vager pro- oder antieuropäischer Stimmungen und um nationale Themen.

SPIEGEL ONLINE: Könnten informierte Wähler dennoch auch Kritik am Vertrag von Lissabon zum Ausdruck bringen?

Gerken: CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne sind für den Vertrag. Wer seine Abneigung gegen den Vertrag zum Ausdruck bringen und eine im Bundestag vertretene Partei wählen will, müsste sich folglich für die Linke entscheiden. Aber eine solche Protestwahl hätte auf den Vertrag von Lissabon keinen Einfluss. Denn ob dieser in Kraft tritt oder nicht, hängt nicht vom Europäischen Parlament ab, sondern vor allem von der kommenden Volksabstimmung in Irland.

"Die EU hat in nahezu allen Bereichen Kompetenzen"

SPIEGEL ONLINE: Der Vertrag von Lissabon würde ja den Einfluss des Europaparlaments auf die europäische Rechtsetzung weiter stärken, und daneben auch ein europäisches Bürgerbegehren ermöglichen. In ihren europäischen Wahlprogrammen treten - bis auf die CDU - alle im Bundestag vertretenen Parteien mehr oder weniger deutlich auch für eine darüber hinausgehende Demokratisierung der EU ein. Woran kann der Wähler erkennen, welche Partei es damit wirklich ernst meint?

Gerken: Wer eine demokratischere EU will, muss sich für eine Stärkung des Europäischen Parlaments einsetzen, etwa dadurch, dass das Parlament nach dem demokratischen Grundsatz "Ein Bürger - eine Stimme" gewählt wird. Leider läuft die Entwicklung aber nicht in Richtung gleicher Wahlen. Heute entfallen etwa auf Malta, gemessen an der Bevölkerung, zehnmal so viele Abgeordnete wie auf Deutschland. Nach dem Vertrag von Lissabon verschlechtert sich das Verhältnis sogar noch auf das Dreizehnfache. Diese Schieflage hat die deutsche Politik - über alle Parteigrenzen hinweg - bei den Verhandlungen zum Vertrag hingenommen, zum Teil, wie man in Brüssel hört, sogar betrieben. Dass der Einfluss der Bundesregierung durch die neue Berechnungsformel für Mehrheiten im Rat leicht gestärkt wird, gleicht das Demokratiedefizit bei der Wahl zum Europäischen Parlament auf keinen Fall aus.

SPIEGEL ONLINE: Müsste das Parlament endlich auch ein Recht zu Gesetzesinitiativen bekommen?

Gerken: Grundsätzlich braucht ein vollwertiges Parlament ein Initiativrecht. Das kann auf europäischer Ebene aber nur funktionieren, wenn wir glasklare Schranken für die Zuständigkeiten der EU bekommen. Denn nur dann kann das Europäische Parlament das Initiativrecht nicht missbrauchen, um immer weitere Politikfelder auf die EU-Ebene zu ziehen. Die Vergangenheit lehrt, dass auch das Europäische Parlament bei der - oft sachwidrigen - Kompetenzverlagerung von den Mitgliedstaaten zur EU eine aktive Rolle gespielt hat.

SPIEGEL ONLINE: Wie groß ist überhaupt der Einfluss der Brüsseler Gesetzgebung auf das deutsche Recht?

Gerken: Sehr, sehr groß. Die Europäische Union hat in nahezu allen Lebensbereichen Kompetenzen, und sie nutzt diese auch.

SPIEGEL ONLINE: Über den Grad des Einflusses gibt es aber wissenschaftlichen Streit. Sie und Alt-Bundespräsident Roman Herzog hatten schon vor zwei Jahren errechnet, dass gut 80 Prozent aller in Deutschland geltenden Gesetze direkt oder indirekt auf die EU zurückgehen. Andere Wissenschaftler haben das als "Mythos" bezeichnet.

Gerken: Vor kurzem hat aber eine private Untersuchung, die von einem Mitarbeiter der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages stammt, meine Zahlen als "realistisch" bestätigt. Man muss doch im Prinzip nur vergleichen, was Brüssel an allgemeingültigen Verordnungen und Richtlinien produziert und was vom deutschen Gesetzgeber kommt. Dann ergeben sich diese Zahlen.

SPIEGEL ONLINE: Kann man das überhaupt so einfach gegenüberstellen? Ein wichtiges Gesetz muss doch anders bewertet werden als eines von geringer Bedeutung.

Gerken: Natürlich regeln die EU-Verordnungen im Agrarrecht eher kuriose Einzelaspekte, etwa die Ausfuhr von Getreide in Form von Whisky. Solche Bereiche kann man dann komplett herausrechnen. Aber es gibt genauso europäische Rechtsakte, die ungeheure Folgen haben, wie die Luftqualitäts-Richtlinie, der wir jetzt die Feinstaub-Plaketten und Umweltzonen zu verdanken haben. Und wie wollen Sie das Einkommensteuergesetz, wo der deutsche Gesetzgeber noch das alleinige Sagen hat, etwa gegen die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie im Umweltrecht gewichten? Das geht nicht - unter diesem Vorbehalt stehen natürlich alle Zahlen.

SPIEGEL ONLINE: Im Verfahren um den Lissabon-Vertrag beim Bundesverfassungsgericht bezifferten die Prozessbevollmächtigten des Bundestags den Einfluss der EU auf nur 6 bis 14 Prozent. Sie beriefen sich auf internationale Studien.

Gerken: Da habe ich mir die Augen gerieben. Man darf natürlich nicht allein die Gesetze zählen, die ausdrücklich einen EU-Rechtsakt umsetzen. Die EU-Verordnungen gelten ja unmittelbar, sie tauchen in der nationalen Gesetzgebung gar nicht auf. Wenn man das ausblendet, kommt man zwangsläufig zu falschen Ergebnissen.

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