Fünf Minuten vor Ende der Vorlesung bemerke ich, dass den Zuhörern die Zeit nicht mehr reichen wird, die Aufgabe an der Tafel zu verstehen und abzuschreiben. Also kündige ich an, die Tafel abzufotografieren, damit wir nächstes Mal an der selben Stelle auf dem Tablet weiter machen können. Mein Smartphone hat noch 1% Akku, die Kamera des Tablets ist unscharf, weil verkratzt – das mit dem Foto wird nix.
Ich bitte die Studierenden ein Foto zu machen und mir zu schicken. Ein Student schräg in der ersten Reihe zeigt mir sofort das Ergebnis auf seinem Tablet: “passt so?”.
Das Foto ist perfekt und so gerade, als wäre er mittig vor der Tafel gestanden! Keine Verzerrung durch die Perspektive von schräg seitlich, nur ein kleines weißes Eck zeugt von der Entzerrung . Er zeigt mir die zugehörige App “OfficeLens”, die die Tafelbegrenzungen automatisch findet und das Bild gerade rechnet. Ich bin beeindruckt und freue mich, dass die Zukunft wieder etwas näher gerückt ist.
In der unmittelbar darauffolgenden Vorlesung “Bildverarbeitung” schwärme ich, immer noch beeindruckt, den Studierenden dort von dieser praktischen Alltagsanwendung von Bildverarbeitungsalgorithmen vor und empfehle ihnen die App. Sie hören mir interessiert zu, und fragen, ob ich schon wüsste, dass ihnen das Abfotografieren der Tafel gerade explizit und sehr ausführlich verboten wurde. Ein Kollege hat ihnen die Ohren gewaschen, dass das verboten sei und dafür grundsätzlich die schriftliche Genehmigung des Tafelautors nötig wäre. Und zwar für jedes einzelne Foto!
Beim Mittagessen erzähle ich den Kolleginnen und Kollegen davon und erfahre, dass die Gespräche der Hochschulen mit der VG-Wort zum Thema Urheberrecht schwierig sind.
Ab 2016 muss jede verwendete Quelle in einem Vorlesungsskript seitenweise einzeln an die VG-Wort gemeldet und bezahlt werden. Sogar wenn das Skript passwortgeschützt nur einem kleinen Hörerkreis zugänglich ist.
In diesem Fall, so sagen die Kollegen, würden sie auf die Herausgabe eines Skripts in elektronischer Form lieber ganz verzichten, nur Literaturlisten verteilen und in der Vorlesung komplett auf das gute alte Vorlesen setzen.