Rassismus für die Gebildeten unter seinen Verächtern

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Mit "Paradies: Liebe" stilisiert sich der Österreicher Ulrich Seidl einmal mehr als der Houellebecq des Kinos

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Glück ist Scheitern, Liebe ist Einsamkeit, Schönheit ist Hässlichkeit - wenn eines gewiss ist im Kino des Ulrich Seidl, dann ist es sein Miserabilismus, die Mischung aus kalter Berechnung und der behaupteten wahnsinnigen Menschlichkeit des Regisseurs, seiner Empathie für seine Figuren. Je hässlicher und ärger ihr Leben, um so mehr. Das Ulrich-Seidl-Prinzip lebt dabei von der Gewissheit, dass es hart wird, widerlich und trotzdem superschön sauber aussieht.

Trotzdem diese Art von provokativem Sozial-Naturalismus eine Tradition hat und seit über 100 Jahren ihren Platz im bürgerlichen Kunst-Kanon, überschreitet Seidl mit "Paradies: Liebe" die Grenzen seiner sonstigen Film-Kunst. Es sind Klassenfragen und Rassenfragen, die dieser Film stellt, die man auch seinem Regisseur stellen muss. Ist dies eine Form des Rassismus für die Gebildeten unter seinen Verächtern?

Dieser Film ist derb und hässlich, und immer wieder soll es sehr schön aussehen. Man sieht drei Männer auf gleicher Höhe im gleichen Tempo vorwärtschreiten. Bis zum Bauchnabel stehen sie im Wasser, denn sie putzen einen Swimmingpool in einem Touristenressort in Kenia. Die drei sind Kenianer - und ihre schwarze Haut macht sich im Sonnenlicht vor dem Swimmingpoolblau besonders hübsch. Ein erster Riefenstahl-Moment - und nicht der letzte in diesem Film. Man täte seinem Regisseur unrecht, wenn man glaubte, dass es ihm in seinem Film "Paradies: Liebe" nicht auch um Schönheit und um derartige Effekte ginge...

Exploitation. Auf Deutsch: Ausbeutung. Im Kinozusammenhang nennt man Exploitation jenen Typ Film, der seinen Gegenstand ausstellt, ausschlachtet, der sich der perversen Angstlust am Hässlichen und Grotesken, am Abstoßenden und Ekeligen - eine Angstlust, die jeder Betrachter kennt - bedient, und der den Voyeurismus, den Blick durchs Schlüsselloch, hinein ins Hinterzimmer der Intimität, ins Unerlaubte, ja Verbotene, der seit seinen Anfängen ein essenzieller Teil des Kinos ist, einkalkuliert und sich aktiv zunutze macht.

Einst war der Ort solcher Filme das kleine, schmuddelige B-Movie oder jene "Mitternachtsfilme", in denen seit jeher das Explizite, auch Porno und Splatter, zu sehen sind - unbedingt legitime Bestandteile des Kinogenusses, aber doch nur in seltenen Fällen das, was man als Kunst bezeichnen würde.

Längst aber ist inzwischen, in Zeiten, in denen es keine B-Movies mehr gibt und mitternachts die Kinos längst geschlossen haben, der Kunstfilm zum wahren Exploitation-Kino geworden. Zuletzt stellten das die renommierten "Cahiers du Cinéma" fest, die Bibel des französischen Kinos. In ihrer Dezemberausgabe fand sich eine Liste der "zehn Todsünden" des Autorenfilms und an sechster Stelle steht die "Provokation um der Provokation willen". Das Beispiel der Franzosen: Ulrich Seidl.

All inclusive: Masochismus, Zynismus, Misanthropie

Ulrich Seidl ist der Houellebecq des Kinos. Seit jeher gilt der Österreicher mit harten, bösen, unangenehmen, oft Ekelgrenzen überschreitenden, abstoßenden, jedenfalls maximal neurotischen Filmen wie "Tierische Liebe" (1995), "Hundstage" (2001), oder "Import-Export" (2006) als der Schock-Regisseur schlechthin der Autorenfilm-Szene und auch unter seinen schon ansonsten nicht zimperlichen Landsleuten.

Das Ulrich-Seidl-Prinzip lebt von der Behauptung, alles sei vollkommen pur und ganz unverstellt, und dem gleichzeitigen Wissen, dass hier Schauspieler und schauspielernde Laien agieren, dass man raten kann, wer "echt" ist und wer "spielt". Und der Gewissheit, dass es hart wird, widerlich und dabei superschön sauber aussieht.

Inzwischen hat es auch etwas Masochistisches, sich einen Seidl-Film anzugucken. Natürlich tut man es. Aber man weiß: Man wird jetzt etwas sehen, was man nicht sehen will. Seidl ist der Kulminationspunkt eines gewissen Kinos, das zwar unbedingt sehenswert ist, dass fast alle aber auch ein bisschen fürchten: Elendsfilme, deren Regisseure insgeheim Menschheitsfeinde sind, Zyniker, die auch ihr Publikum leiden sehen möchten, aber von ihm selbst dafür geliebt werden wollen. Sie stehen absolut unter Misanthropie-Verdacht.

In seinem neuen Projekt untersucht Seidl den universalen Dreiklang des Christentums: Glaube, Liebe, Hoffnung. Drei Filme, geordnet wie ein Triptychon der Religion beziehungsweise religiöser Motive. Nur dass dies alles, wenn man halbwegs bei Sinnen ist, nicht anders denn als Ironisierung religiöser Motivik verstanden werden kann.

"Paradies: Glaube", der im September bei der Biennale von Venedig einen Preis gewann, erzählt von einer fanatischen katholischen Fundamentalistin. "Paradies: Hoffnung", mit dem der Triptychon in wenigen Wochen, im Wettbewerb der Berliner Filmfestspiele, seinen Abschluss finden wird, erzählt von einem Teenager-Mädchen in einem Diätcamp.

In "Paradies: Liebe", dem ersten der Reihe, der jetzt ins Kino kommt, erzählt Seidl sehr nahe an einem Dokumentarfilm von einer Gruppe älterer Frauen, die Urlaub in Kenia machen - als Sextouristinnen.

Neger schlagen das Rad im Sonnenschein

Dies ist nicht der erste Film zum Thema - denken wir an Vers Le Sud - aber der proletarischste: Die Afrikaner heißen hier "Neger", und wenn sie auch noch zu singen wüssten, könnte dieser Film immer wieder eine Revue von Leni Riefenstahl sein. Oder wie soll man es sonst nennen, wenn drei Afrikaner in einem Schwimmbad - schön Schwarz auf Blau - auf exakt gleicher Höhe im gleichen Tempo nach vorn schreiten und wenn sie am Ende rhythmisch das Rad schlagen. Wenn sie dazwischen schweigend und bewegungslos auf einer Linie stehen und in die gleiche Richtung gucken. Es gibt immer wieder solche Ballettmomente, wo die schönen Männerkörper sehr hübsch ausgestellt, pardon, ins Bild gesetzt werden.

Und wenn später auch noch die schönen nackten Männerkörper und ihre langen Schwänze ausgiebig gezeigt werden, denkt man spätestens an Riefenstahl und die Nuba. Wohlgemerkt: Damit soll Seidl kein politischer Faschismus-Vorwurf gemacht werden, das wäre auch Unsinn. Aber man muss feststellen, dass es ästhetische Anklänge und Nähen gibt, und dass Seidl an manchen Abgründen nur ganz haarscharf vorbei schrammt.

Es geht zwar los mit einer tollen Szene und dem ersten echten Seidl-Bild: Eine Gruppe von Mongoloiden fährt Autoscooter. Dann sieht man deren Betreuerin, sie schleppt Tüten. Verabschiedet sich von Tochter und Schwester - das werden dann die Hauptfiguren der nächsten Filme. Dann Afrika.

In überaus wohlgestylten Halbtotal-Einstellungen, typischen Seidl-Bildern, sieht man nun vor allem die Hauptfigur Theresa. Sie reinigt ihr Zimmer mit Desinfizierspray, erobert sich dann allmählich das Tourist-Ressort und die Traumstrände der Küste. Hier heißen die Strände zum Beispiel Flamingo Beach und es sieht alles wirklich aus wie im Paradies, wie in den fast jedes Mal lesenswerten Texten der Reisejournalistin Barbara Liepert, in denen neben großartigen Reisetips eigentlich immer das Wort türkis vorkommt, sei es türkisblau oder türkisgrün.

Theresa liegt gut geölt in der gleißenden Sonne und lernt andere alleinreisende Frauen ähnlichen Alters kennen, mit denen sie Gespräche über den eigenen, zunehmend unattraktiven Körper führt. "Ich scheiß mi nix mehr. Jetzt nehms' mi so, wie i bin."

Der Zynismus, den diese Frauen sich selbst und ihrem eigenen Körper gegenüber haben, gefällt in seiner Direktheit. Da mag Seidl später noch zehnmal sagen, dass er diese Leute alle wahnsinnig liebt und schön findet, aber er muss doch konstatieren, dass sie es selber nicht tun. Interessant wäre es, den Film vor lauter Frauen zu zeigen, die genau so drauf sind. Deren Reaktion sähe man gern. Sie reden auch über den Reiz des Fremden:

Aber ich sage dir das: Die Haut, die musst du mal riechen von denen. Das vergisst du nimmer. / Von wem? / Na von den Negern. Das riecht wie Kokus und die könntest dauernd abschlecken und reinbeißen. Das ist ein Wahnsinn. / Du bist unmöglich. Hör auf. / Es ist ein Wahnsinn. / Ich traue mich nicht.

"Keine mehr Liebe"

Was die Afrikaner für die Frauen attraktiv macht, ist, dass sich die Frauen wieder begehrenswert fühlen dürfen. Über die Eingeborenen, die hier ihre Gesellschaft und ihren Körper mehr oder weniger feilbieten für die Frauen aus dem Norden, die älter sind und reicher. Theresa wird bald zur richtigen "Sugar Mama" werden, die sich ihre "Beach Boys" kauft.

Am mächtigsten ist am Ende eben die Ökonomie. Die Frauen hier sind Kleinbürger, Unterschicht zuhause. In Afrika werden sie plötzlich zur Oberschicht, weil es hier plötzlich Menschen gibt, die sozial noch weit unter ihnen stehen. Die Opfer werden zu Ausbeutern. Seidl sagt und zeigt uns, wie schlecht die Menschen sind, welche Abgründe in uns schlummern.

Für Seidls Verhältnisse ist alles recht straightforward erzählt. Mainstream fast. Es geht um Einsamkeit, ja klar. Sagt Seidl auch auf jeder Pressekonferenz selbst. Aber bitteschön um was denn auch sonst? In Seidls Filmen (und in gefühlt 70% der übrigen Autorenfilme) geht's immer um Einsamkeit. Das ist banal, und es ist enttäuschend banal, was der Regisseur zum Thema zu sagen hat. Nämlich, dass die Frauen auch als Sextouristinnen immer einsamer werden. Dass sich Afrika entzieht, wie die Affen auf dem Balkon - die Erfahrung wird Theresa machen.

Die Weißen sind ordinär, die Leut' reden, wie sie eben reden. Die Österreicherinnen sagen Worte wie "Blunzengröstl", die Afrikaner radebrechen wie in "Onkel Toms Hütte": "Keine mehr Liebe."

Die Einsamkeit der Sextouristinnen

Der, der das macht, redet so nicht. Er ist ein Großbürger und Intellektueller, der Filme für seinesgleichen macht. Was er natürlich darf und andere auch tun. Aber seine Figuren dürfen längst nicht alles. Die Figuren dieses maximalen Regie-Kontrollfreaks tun niemals etwas Unerwartetes.

In seinem Blick auf die Menschen nimmt Seidl in Interviews gern für sich in Anspruch, seine Figuren zu lieben und empathisch zu sein. Aber ist er das wirklich? Zumindest sind er und seine Haltung sehr distanziert. Gewiß: Es geht um die Afrikaerfahrung, zu der gehört, dass sich Afrika immer wieder entzieht, fremd bleibt. Es geht, manchmal sehr untergründig, auch um die Einsamkeit der Frauen und darum, dass sie auch als Sextouristinnen immer einsamer werden. Sein Mitleid mit Sextouristinnen, deren Einsamkeit und Sehnsüchte er ernst nimmt, glaubt man Seidl.

Was den Film überhaupt zur Kunst macht oder machen soll, ist aber eben dies: Dass er zur Freakshow und zum Jahrmarkskabinett wird, in dem seine Protagonisten, die Frauen, alt sind, nicht jung oder zumindest "gut gehalten", sondern dass sie nach den üblichen Maßstäben der bekannten Mode- und Schönheitsideale ziemlich unattraktiv, zum Teil einfach hässlich sind. In manchen Zeitungen wird dazu dann auch behauptet, dass das alles deshalb so menschlich sei, weil diese Frauen "noch in der Täterrolle immer auch Opfer sind". Das Abstoßende darf uns also nicht abstoßen, sondern soll Mitleid erregen - so ist der Deal.

Ist es davon abgesehen angemessen, wie Seidl die Afrikaner zeigt? Oder vielleicht doch ein bisschen rassistisch? Sie sind im Film nur aufs Geld der Weißen aus, sind gerissen, dabei doch naiv und alle prostituieren sich. Seidls-Afrika-Bild ist ohne Überraschungen und ohne jede erkennbare Neugier. Ohne jeden Anarchismus. Darum passt hier die Rede von der Exploitation. Seine Bilder bedienen Voyeurismus, nicht zuletzt den der Gebildeten im Publikum, die sich über die hässlichen Prolls erheben können, zeigen aber nichts, was man nicht bereits kennen würde, bewegen sich vielmehr oft stark an der Oberfläche. Es fehlt jedes Moment des Suchens in einem glatten, mitunter besserwisserischen, allerdings sehr gut gemachten Film.

Was noch mehr nervt als die Haltung dem Sujet gegenüber, ist Seidls penetrante ästhetische Pädagogik. Die langen stylischen Einstellungen auf Hässliches, aber von ihm per Kamera Lackiertes. Seidl macht es mit den Bildern im Grunde nicht anders, wie die Alte mit ihrem Desinfizierspray. Und diese Bilder sagen dem Zuschauer dauernd: Hier musst Du jetzt gefälligst hingucken.