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Ausland Rettungsprogramm

Italien fordert EU-Hilfe wegen Flüchtlingsansturm

Die Flüchtlinge aus Afrika kommen in Barkassen zu Tausenden über das Mittelmeer und landen erschöpft vor der italienischen Küste Die Flüchtlinge aus Afrika kommen in Barkassen zu Tausenden über das Mittelmeer und landen erschöpft vor der italienischen Küste
Die Flüchtlinge aus Afrika kommen in Barkassen zu Tausenden über das Mittelmeer und landen erschöpft vor der italienischen Küste
Quelle: AFP
Eine neue Flüchtlingswelle rollt über das Mittelmeer. Binnen 48 Stunden wurden 4000 Menschen von Rettungskräften aufgegriffen. Italien fühlt sich alleingelassen, der Zorn der Bevölkerung wächst.

Er wettert gegen den Euro und gegen die Sparpolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Seit Kurzem hat Matteo Salvini, Vorsitzender der rechtskonservativen Lega Nord, ein weiteres Thema, mit dem er vor den Europawahlen im Mai auf Stimmenfang geht: die Flüchtlingswelle aus Afrika. „Basta Immigration, basta Banker, basta Euro“, zetert Salvini. „Sie sagen uns, dass 500.000 afrikanische Flüchtlinge auf dem Weg zu uns sind. Und gleichzeitig lockern sie die Strafgesetze. Das ist nicht hinnehmbar“, schimpft Salvini.

Für fünf Referenden sammelt die Lega Nord bereits Unterschriften. Ein sechstes kommt bald hinzu. Das Thema lautet: „Illegale Einwanderung muss als Straftatbestand wieder aufgewertet werden.“ Salvini erklärt, was ihm vorschwebt: „Die Schiffe mit den Flüchtlingen müssen gestoppt, gedreht und in Richtung Herkunftsländer zurückgeschickt werden können.“ Salvini zieht mit der Botschaft durch die italienischen Städte, von Marktplatz zu Marktplatz, und ist fast täglich in Radio- und TV-Sendungen.

Salvini kommt mit seinen markigen Sprüchen an. Denn in Italien wächst die Wut. Das Land fühlt sich von Europa beim Umgang mit Flüchtlingen im Stich gelassen. Aufgrund der Unruhen in Afrika, allen voran in Libyen und Syrien, suchen viele Menschen das Heil in der Flucht in Richtung Europa. Italien ist mit der Mittelmeerinsel Lampedusa, die zwischen Tunesien und Sizilien liegt, häufig die erste Anlaufstelle für die Menschen, die Bürgerkriegen entfliehen und sich auf überfüllte Barkassen zwängen. Nach Angaben der italienischen Außenministerin Federica Mogherini wählten im vergangenen Jahr 70 Prozent der Schiffe mit Flüchtlingen an Bord die Route über das zentrale Mittelmeer, also in Richtung Italien.

Italien fordert Reformen von der EU

Das Flüchtlingsproblem gerät immer dann ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, wenn aufwendige Rettungsaktionen notwendig werden und die Nachrichtensendungen bestimmen. Das ist jetzt wieder der Fall. Binnen 48 Stunden griff die italienische Marine diese Woche 4000 Bootsflüchtlinge im Mittelmeer auf. Die Rede war von mindestens einem Toten. Nach Angaben von Admiral Giuseppe De Giorgi war am Donnerstag die Rettung von sechs Barkassen im Gang.

Die Zahl der Rettungseinsätze seit Oktober 2013 bezifferte De Giorgi auf 117. Insgesamt 18.546 Flüchtlinge seien in Sicherheit gebracht worden. Allein diesen Dienstag seien 553 Menschen an Land gezogen worden. Die Zahl der Flüchtlinge übers Meer sei enorm gestiegen. 2013 seien 42.925 Menschen über das Meer geflohen, 224 Prozent mehr als 2012, so De Giorgi.

Der italienische Staat ächzt unter der Flüchtlingswelle und stellt Forderungen an die europäischen Partner. Die Regierung von Ministerpräsident Matteo Renzi macht sich dafür stark, dass die EU mehr für die Kontrolle der Grenzen ausgibt. Die 80 Millionen Euro für die Agentur Frontex, die für die Bewachung der EU-Außengrenzen zuständig ist, reichten nicht aus, moniert Italiens Innenminister Angelino Alfano. Italien fordert zudem eine Reform der Asylgesetzgebung. Die europäischen Regeln schreiben im Rahmen der sogenannten Dublin-II-Vereinbarung vor, dass ein Flüchtling nur in einem Land einen Asylantrag stellen darf und dort auch bleiben muss. Das bedeutet: Wer in Italien anstrandet, darf das Land nicht verlassen.

Flüchtlingsoperation „Mare Nostrum“ ist teuer

Italiens Regierung bemüht sich darum, dass Thema Immigration auf die europäische Agenda zu setzen. Die Gelegenheit dafür ist günstig. In der zweiten Jahreshälfte 2014 hat Italien die Ratspräsidentschaft der EU inne. Was die Sensibilisierung der europäischen Partner betrifft, seien Fortschritte erzielt worden, sagte Außenministerin Mogherini. „Sie reichen aber nicht aus. Das werden wir während der Ratspräsidentschaft angehen.“

Das hoch verschuldete Italien tut sich mit dem Umgang mit Flüchtlingen extrem schwer. Im Oktober 2013 wurde die Operation „Mare Nostrum“ gestartet. Seitdem patrouillieren die Marine und die Küstenwache vor der Küste. Flankiert werden die Kriegsschiffe und Rettungsboote von der Luftwaffe. Auch Amphibienfahrzeuge, Drohnen und Hubschrauber mit Infrarot- und optischer Ausrüstung werden eingesetzt, um Flüchtlingsboote ausfindig zu machen. Die Aufgabe besteht nicht nur darin, die Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen, sondern auch darin, die Schlepper dingfest zu machen. Nach Angaben von Admiral De Giorgi wurden seit Oktober 66 Menschenschmuggler festgenommen.

Aber „Mare Nostrum“ kostet. Laut Innenminister Alfano verschlingt die Operation täglich 300.000 Euro, auf den Monat hochgerechnet entspricht das neun Millionen Euro. Immer wieder wird darüber diskutiert, ob der Staat sich den Aufwand weiter leisten sollte. Manche Kritiker machen „Mare Nostrum“ sogar für die steigenden Flüchtlingszahlen verantwortlich. Ihre These: Die Operation mache die Überfährt aus Afrika für die Flüchtlinge sicherer. Admiral De Giorgi weist die Behauptung zurück: Verantwortlich für den Anstieg seien einzig und allein die Unruhen in vielen afrikanischen Ländern.

Flüchtlingsheime sind überfüllt

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Die Kontrolle der Küsten ist nicht das einzige Problem für Italien. Viel schwieriger ist es, den einmal angestrandeten Menschen eine angemessene Unterkunft und eine Aussicht auf eine würdevolle Zukunft zu geben. Zumindest theoretisch ist das Verfahren klar: Wer in Lampedusa oder woanders an Land kommt, wird für die ersten 20 bis 35 Tage in ein Notlager gebracht, in Städten wie Bari, Lecce oder Ragusa. Die Menschen werden fotografiert, Fingerabdrücke genommen. Dann werden sie weitergeleitet, meistens in Großstädte. Dort gibt es Asylheime.

Während die Flüchtlinge darauf warten, dass ihrem Asylantrag stattgegeben wird, können sie Italienisch lernen. Orientierung geben die Polizei und die Informationsstelle für Asylbewerber. Ein Netz an Integrationszentren gibt es auch. Die italienischen Städte und Gemeinden haben das Programm „Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugiati“, kurz SPRAR lanciert. Für sechs bis acht Monate wird eine Unterkunft gestellt, und Kurse für die Berufsqualifizierung werden durchgeführt.

Kirche hilft überforderten Behörden

In der Praxis funktioniert das alles mehr schlecht als recht. Die Auffangzentren sind hoffnungslos überlaufen und häufig in einem miserablen Zustand. Es gibt zu wenig Betten. Die Betreuung ist unzureichend, schließlich sind viele Flüchtlinge traumatisiert. Kirchliche und private Organisationen versuchen deshalb, in die Bresche zu springen.

Doch das erweist sich als Herkulesaufgabe. Das Centro Astalli in Rom wird von den Jesuiten betrieben. Im Jahr 2013 hätten sich 37.000 Personen in Not an das Zentrum gewandt. 713 Folteropfern, vor allem aus afrikanischen Ländern, sei geholfen worden, schreibt das Centro Astalli in seinem diese Woche veröffentlichten Jahresbericht.

Der Präsident des Centro Astalli, Pater Giovanni La Manna, erinnerte an das große Unglück vom 3. Oktober 2013, als ein Schiff mit Flüchtlingen vor Lampedusa kenterte und 366 Menschen ums Leben kamen. Das tragische Ereignis löste international Erschütterung aus, Papst Franziskus reiste danach auf die Insel. La Manna zog ein bitteres Fazit: „Diese enorme Dimension der Tragödie hätte die Gelegenheit für einen Wandel sein können. Doch nach der üblichen Gefühlswelle machten sich wieder Indifferenz und Stille breit.“

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