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S.P.O.N. - Der Kritiker Das Amt ist überflüssig geworden

Das Drama um Christian Wulff zeigt: Wir brauchen keine moralische Autorität mehr, die ihre Position dem Parteiengeklüngel verdankt. Diese Funktion des Bundespräsidenten passte in die Ära der Einbahnstraßendemokratie - doch die ist vorbei. Zeit, über eine neue Republik nachzudenken.

Willkommen im neuen Jahr, wie wäre es mit einer neuen Republik? Ich würde zum Beispiel gern das Amt des Bundespräsidenten abschaffen, das ja eh nur eine Art Blinddarm der Politik ist: Wenn alles gut läuft, spürt man nichts, nur wenn er sich entzündet, merkt man, dass es ihn gibt.

Christian Wulff, das wird seine historische Rolle sein, hat das eindrucksvoll bewiesen. Falls er kommende Woche endlich zurücktritt, weil "doch noch was rausgekommen ist", sollte er sein Amt gleich mitnehmen, nach Hannover oder nach Mallorca, zu seinen Freunden, die ihm so wichtig sind, "gerade menschlich".

Das ganze lächerliche Schauspiel der vergangenen Wochen hätte dann wenigstens einen Sinn gehabt. All die Stunden und Zeitungsseiten, die sich Journalisten damit beschäftigten, einem mittelmäßigen Mann in einem nutzlosen Amt nachzuweisen, dass er mittelmäßig ist oder eben "ein Mensch" (Herbert Grönemeyer) - das wirkte fast, als wollten sich zwei Institutionen in der Krise, die Medien und die Politik, gegenseitig beweisen, dass sie noch eine Rolle spielen: Es war wie eine wechselseitige Relevanzsimulation, ausgerechnet am Ende eines Jahres, in dem nicht der Präsidentenkredit oder ein Präsidentenrücktritt eine Staatskrise auslösen könnte, weil die Staatskrise ja längst da ist, mit dem Euro-Fiasko etwa oder dem Demokratiemangel in der EU. Wenn überhaupt, und wenn es das noch gebraucht hat, so war das ganze Gewulffe ein weiterer Beweis dafür, wie sehr sich das Land, wie sehr sich die Zeit geändert hat.

Auch Gauck wäre nur ein Demokratie-Placebo gewesen

"Das Amt" jedenfalls (Comedyserie auf RTL von 1997 bis 2003) funktioniert nicht mehr, da drehen sich die Leitartikler im Kreis, die darauf hinweisen, dass der Präsident "unabhängig" sei oder eine "Instanz" oder eine "moralische Autorität". Wir leben aber nicht in einer Art ewigem evangelischen Kirchentag, sondern in einer Demokratie, darauf hat Claudius Seidl in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" mal kurz hingewiesen. Wir leben auch nicht mehr im Jahr 1949, als "Moral" und "Autorität" so sehr zur Politik gehörten wie das Kuchenbesteck zum Bienenstich und sich die Verfassungsgeber aus Vorsicht und Verlegenheit diesen überflüssigen Präsidentenposten ausdachten. Und wir leben nicht mehr im Jahr 1987 oder 2005 oder 2010 - wir leben in einer neuen Zeit, Christian Wulff und der Arabische Frühling haben das gezeigt.

Wir brauchen keine "moralische Autorität" mehr, die ihre Position dem offensichtlichen Geklüngel der Parteien verdankt. Daniel Brössler hat in der "Süddeutschen Zeitung" beschrieben, wie beschädigt "das Amt" schon war, als Wulff gewählt wurde - durch Angela Merkel, die keinen "Respekt" hatte und auch kein "Verantwortungsgefühl", als sie den schwachen, mittelmäßigen Wulff wählen ließ und nicht jemanden, der wirklich eine "Autorität" gewesen wäre wie Joachim Gauck oder Wolfgang Schäuble.

Aber auch sie wären ja nur Demokratie-Placebos gewesen, auch sie hätten nur versucht, eine Funktion auszufüllen, für die es keine Verwendung mehr gibt - und letztlich nie gab. Es gab nur eine andere Zeit, die das eher hingenommen hat, diesen paternalistischen Politikstil, diese Einbahnstraßendemokratie, zu der dann auch das Einfamilienhaus passt, diese selbstauferlegte Strafe aller bürgerlichen Schuldenmacher, dieses selbstgeformte Gefängnis für Leute, die ihre Lebensentwürfe nach Quadratmetern vermessen. Deren Präsident war Wulff vielleicht, der Präsident aller Vorgartensprenkler und Vorstadt-Palladios, er war der Präsident einer alten Zeit, ein Präsident wie ein historischer Verkehrsunfall, weil da der BRD-Selbstbediener Wulff und die DDR-Machttaktikerin Merkel aufeinander krachten und einen dann tatsächlich moralischen Schrotthaufen hinterlassen haben.

Moral nach der Bewusstseinsrevolution

Was nur wieder zeigt: Politik soll sich um Probleme kümmern, für die Moral sind andere zuständig. Die Kirche zum Beispiel, und wirklich ist mir der verlogene deutsche Papst tausendmal lieber als der verlogene deutsche Präsident - der spricht wenigstens nur zu denen, die an ihn glauben, das ist ein fairer Deal, die anderen können ja weghören.

Für Moral aber - wenn man es so nennen will, dass wir uns Gedanken machen über die Art und Weise, wie wir leben wollen -, das hat das Jahr 2011 gezeigt, sind vor allem wir selbst verantwortlich. Das war der eigentliche Kern jener Bewusstseinsrevolution, die von Kairo bis zu Occupy Wall Street reichte. Das ist der eigentliche Grund, warum es an der Zeit wäre, das nachzuholen, was bei der Wiedervereinigung 1990 verpasst oder vermieden wurde: ein Land zu schaffen, das intellektuell und institutionell in der Gegenwart angekommen ist.

Wie das gehen und aussehen könnte, haben in dieser Woche beispielsweise Mark Greif in der "Süddeutschen Zeitung" und Niklas Maak in der "Frankfurter Allgemeinen" skizziert: Demokratie, einmal geboren aus dem Ideal der Kleinstadt und einmal geboren aus der Enge der Metropole. Den Bundespräsidenten abzuschaffen, das hat auch Daniel Bax in der "taz" vorgeschlagen. Die Politik, heißt es oft, sei "flüssig" geworden, was recht schwammig klingt - bis man so jemanden wie Wulff sieht. Da weiß man auf einmal, warum das alles so nicht mehr weitergeht, dieses Verwalten von Mängeln und Fehlern, die man in wirtschaftlich heiteren und historisch günstigeren Zeiten gern als demokratische Schrullen abgetan hat.

In Frankreich übrigens gibt es die schöne Sitte, alle paar Jahrzehnte die Republik neu zu gründen (sie haben das allerdings auch schon zu lange nicht mehr gemacht und hängen jetzt im gaullistischen Schlamassel fest). Sie zählen mit, eins, zwei, drei, vier, fünf, da steht Frankreich gerade. Deutschland steckt in der zweieinhalbten Republik. Jetzt wäre der ideale Zeitpunkt, mal über eine dritte nachzudenken, über Sinn und Unsinn etwa von Bundespräsidenten, die Leere produzieren, oder vom subventionierten Staatsfernsehen, das Lethargie und Quizsendungen produziert, oder vom Föderalismus, der unter anderem Bildungschaos produziert.

Jetzt ist die Zeit der Neujahrsvorsätze. Ich zum Beispiel war heute im Fitnessstudio, zum zweiten Mal schon im noch jungen Jahr. So wie ich mich kenne, halte ich gerade bis Ende März durch. Unser Bundespräsident Wulff hat uns die Chance geschenkt, mal wieder darüber nachzudenken, wer wir sind und wer wir sein wollen.