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Love-Parade-Doku "Wir haben die Leute in den Tod geschickt"

Mehr als 400.000 Menschen wollten auf der Love Parade in Duisburg feiern - und erlebten einen Alptraum. SPIEGEL TV hat die Katastrophe dokumentiert. Der Leitende Notarzt und zwei Ordnerinnen geben in dem Film erstmals erschütternde Einblicke in ihre Arbeit und erheben schwere Vorwürfe.

Hamburg - Sie bekommt das Bild einfach nicht aus dem Kopf. Ein Mann hat seinen Kumpel auf dem Schoß, er fächelt ihm Luft zu, tätschelt ihm die Wangen. "Mach die Augen auf!", ruft er. Doch der Mann ist tot.

Nicole Ballhauser schildert die Szene in der SPIEGEL-TV-Dokumentation "Die Love Parade von Duisburg - Eine amtlich genehmigte Katastrophe?" Es gelingt ihr nicht, die Tränen zu unterdrücken. Sie war als Ordnerin im Einsatz. Ein Einsatz, der ihr Leben verändert hat.

Im hellblauen T-Shirt, die braunen Haare zu zwei Zöpfen gebunden, ist Nicole Ballhauser am 24. Juli 2010 eine von 1080 Security-Kräften, positioniert am Eingang des Osttunnels.

In dem Film von Timo Gramer und Thule Möller erhebt sie schwere Vorwürfe gegen die Veranstalter. Ihr und den anderen Ordnern sei nicht bewusst gewesen, dass die Rampe, an der es zur Massenpanik mit 21 Toten kam, als Eingang und als Ausgang diente.

Sie habe mit ihren Kollegen die Raver durchweg Richtung Rampe gescheucht, erzählt Nicole Ballhauser. Immer wieder durchgewinkt, angetrieben, losgeschickt. "Wir haben die Leute in den Tod geschickt." Bis heute quält sie diese Erkenntnis, noch immer ist sie in therapeutischer Behandlung.

Als sie an jenem Juli-Tag von dem Gerangel erfährt, stürmt sie gemeinsam mit ihrer Schwester Bianca, die auch als Ordnerin arbeitet, durch den Osttunnel. Sie wundert sich, problemlos können sie die Betonröhre passieren. Die Frauen rechnen eigentlich mit einer Massenschlägerei.

"Und dann komme ich unten an, das werde ich nie vergessen", erinnert sich Nicole Ballhauser. "Und das erste Bild, was ich unten gesehen habe: drei Tote." Die Schwestern sind gelähmt vor Entsetzen. Bianca Ballhauser beschreibt, wie ein junger Mann eine Frau hält und immer wieder sagt: "Sprich mit mir, Schatz!" Dann habe sie gehört, wie ein Sanitäter sagt: "Sorry, das ist zu spät, die ist schon tot."

Kein Funkgerät, keinen Piepser für den Notarzt

Diejenigen, die im Gedränge das Bewusstsein verlieren, auf den Boden sacken und auf denen herumgetrampelt wird, erleiden meist innere Blutungen, Quetschungen, Knochenbrüche. Die Rettungsmannschaft kümmert sich eiligst um Schwerverletzte, um zu verhindern, dass auch sie sterben. Im Minutentakt werden sie ins Duisburger Klinikum transportiert.

Laurentius Kolodziej ist der Leitende Notarzt im Tunnel. Erstmals schildert er im SPIEGEL-TV-Film, was er an jenem Tag, aber auch bei der verheerenden Planung im Vorfeld des Techno-Festivals erlebt hat. Der Facharzt für Intensiv- und Notfallmedizin sagt, er sei in die Vorbereitungen nicht eingebunden gewesen, obwohl er eindringlich darum gebeten habe. "Eine Woche vorher hat man mir die Pläne in die Hand gegeben und so zwei, drei Sätze dazu gesagt."

Kolodziej sagt, er habe weder ein Funkgerät noch einen Piepser gestellt bekommen. Auf Nachfrage habe man ihn abgewimmelt, er könne im Notfall sein Handy benutzen. Dabei ist bekannt, dass Mobiltelefone bei Großveranstaltungen oft nicht funktionieren, weil die Netze zusammenbrechen. "Da kann man auch Brieftauben schicken", kritisiert der Arzt die Veranstalter.

Ebenso fahrlässig sei es gewesen das Gelände am Alten Güterbahnhof komplett einzuzäunen und ihn so zu einer hermetisch abgeriegelten Fläche zu machen, so Kolodziej. Ein Novum in der Geschichte der Love Parade - für die Helfer, aber auch für die Ordner.

Bianca Ballhauser erinnert sich, wie sie erst vor Ort von der Absperrung erfährt. "Da ging bei mir sofort die Alarmanlage an", sagt sie. Es sei von Anfang an klar gewesen, so Notarzt Kolodziej, dass die Zäune "erhebliche Auswirkungen auf die Rettungsarbeit" haben würden. "Das ist zu keinem Zeitpunkt mit mir diskutiert worden."

Als er am Tag selbst noch einmal einem Verantwortlichen gegenüber seine Zweifel darlegt und betont, dass er im Notfall die einzelnen Sanitätsstellen nicht anfahren könne, weil der Zaun im Weg stehe, lautet die Antwort: "Wissen wir."

Kein Konzept für die Besucherführung

Doch nur mit Zaun kann das Mega-Event genehmigt werden, wie Sicherheitsforscher Dirk Oberhagemann im Film erklärt. Zur Katastrophe kommt es dem Experten zufolge letztendlich auch, weil es "kein einheitliches Konzept für die Besucherführung" gibt. Der Veranstalter habe die Schleusen dichtgemacht, um das Gelände nicht zu überfüllen; die Polizei hingegen habe die Massen schneller durchschleusen wollen, um Rückstauungen zu vermeiden.

Im Film von Timo Gramer und Thule Möller sprechen auch erstmals vor laufender Kamera Stefanie und Klaus-Peter Mogendorf, deren Sohn Eike auf der Love Parade zu Tode kam. Der Student fährt mit Freunden zur Mega-Party. Unter ihnen: Daniel, Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr. Er packt an, wo er kann. Unter den Verletzten entdeckt er Eike. Bewegend schildert Daniel, wie er um das Leben des Freundes kämpfte.

Marius und Bianca, die zu der Gruppe gehören, werden auf Menschenhaufen gepresst, verlieren das Bewusstsein. Es sind die schlimmsten Minuten ihres Lebens. "Da lagen 5, 10 oder 15 Leute auf meinen Füßen. Man hatte keine Chance, was zu machen", sagt Marius. "Wenn man schon lag, hat man gemerkt, dass man keine Luft mehr kriegte. Man musste wieder nach oben kommen und sich Luft zufächeln."

"Diese Angst in ihren Augen"

Der Druck, der auf die Gestürzten wirkt, ist in etwa so hoch als säßen zehn Personen direkt auf dem Brustkorb. Zeitweise setzt die Atmung aus. Entscheidend ist, wann und wie man gerettet wird.

Eike hat keine Chance. Der 21-Jährige stirbt im Krankenhaus. "Um 1 Uhr nachts stand die Polizei vor der Tür. Dann wussten wir, was passiert ist. Das war der Abend, den ich niemals in meinem Leben vergessen werde. Nie!", sagt Klaus Mogendorf in dem SPIEGEL-TV-Film und weint.

Mirjana Zafirovski, die Schwester der getöteten Lidia, beschreibt, welche Tipps sie ihrer Schwester noch gegeben habe, bevor sie in Urlaub nach Griechenland geflogen sei. Im Notfall, so riet sie ihr, "stehen da genug Polizisten". Doch für die junge Gelsenkirchenerin kommt jede Hilfe zu spät, sie stirbt im Gedränge vor der winzigen Treppe auf der Rampe.

Mirjana erfährt aus dem Fernsehen von der Katastrophe. "Ich denke die ganze Zeit, wie sie gegen die Wand gedrückt wurde und wie sie geschrien haben muss. Diese Angst in ihren Augen, die sehe ich bis heute jeden Tag vor mir."

Sie habe noch nie einen Polizisten weinen sehen, sagt Nicole Ballhauser. "Und das habe ich da." Ein Bild, das zu denen gehört, die sie nicht vergisst. Wie das des Mannes, der einen tiefen Bissabdruck auf seinem Arm hatte. Der stamme von seinem besten Freund, erzählte der Mann. Dieser Freund sei gestorben. Er selbst habe sich auf die Leiche stellen müssen, um zu überleben.

Sendetermin: Samstag, 23.7., 22.10-00.15 Uhr, VOX