The Net Delusion ist das erste Buch des in Weißrussland geborenen Politikautors und Bloggers Evgeny Morozov. Der hat sich einen Ruf als scharfer, ja manchmal beißender Kritiker des Internets und des "Cyber-Utopismus" erarbeitet. In Net Delusion breitet er die Argumente aus, die er auch schon an anderer Stelle geäußert hat. Ich habe mein Rezensionsexemplar mit Interesse gelesen – ich mag Evgeny. Wir haben uns schon mehrfach getroffen und einander geschrieben und jedes Mal machte er auf mich den Eindruck eines pfiffigen und engagierten Menschen.

Auch sein Buch enthält im Kern einige sehr kluge Ideen. Morozov hat absolut Recht, wenn er mit Nachdruck darauf hinweist, dass Technik nicht zwingend auch gut für den Frieden sein muss. Und wenn er betont, dass sie genauso dazu benutzt werden kann, zu versklaven, zu überwachen und zu bestrafen. Und dass sie im Gegenzug genauso dazu dienen kann, Überwachung zu entgehen, Sklaven zu befreien und Dinge zu teilen.

Leider ist diese Botschaft versteckt unter einem Haufen unsortierter und schlecht argumentierter Angriffe gegen eine nebulöse "Cyber-Utopismus"-Bewegung. Deren angebliche Ansichten belegt Morozov mit viel zu allgemeinen Begriffen. Oft nutzt er Zitate von CNN und anderen Nachrichtenquellen, die einen angeblichen Cyber-Utopismus beschreiben, wobei sie dessen Existenz doch vor allem vermuten. In dem Eifer, diese Ideologie zu diskreditieren (wie immer sie auch aussehen mag), wirft Morozov mit allem um sich, was ihm in die Hand gerät, so untauglich es auch sein mag. Und er zielt dabei auf jeden, der die Idee von Technologie als Befreier in irgendeiner Form unterstützt. 

Morozov beginnt damit, dass er versucht, die Rolle Twitters für die Wahlen im Iran zu revidieren. Vielen galt Twitter anfangs als äußerst wichtig für die oppositionellen Kräfte. Erst später wurde klar, dass die Iraner selbst nur am Rande damit zu tun hatten, dass sie vielmehr ganz andere Netzdienste nutzten. Diese Dienste aber beeinflussten die Wahlen im Land tatsächlich.

Morozov dokumentiert sorgfältig die Tatsache, dass viele der drei Millionen ausgewanderten Iraner bei Twitter aktiv sind. Der von ihnen erzeugte Nachrichtenstrom und die Botschaften von Sympathisanten aus aller Welt waren es, die die Wahlen und ihre Nachwirkungen auf Twitter zu einem bedeutenden Phänomen werden ließen.

Der Autor dokumentiert auch, dass Exil-Iraner durch Dienste wie Facebook Kontakt zu ihren Verwandten in der Heimat halten. Jedoch zieht Morozov nicht den Schluss, dass die Exil-Iraner die Nachrichten, die sie twitterten, durch Facebook erhielten (und umgekehrt) – also dass sie Botschaften aus der Heimat bekamen und diese weitergaben. Stattdessen zeichnet Morozov das Bild von im Ausland völlig isolierten Iranern, die zwar auf Twitter einen enormen Datenstrom verursachten, dies aber ohne eine Verbindung zu den Verwandten daheim taten.

Dabei hält er selbst diese Kontakte zur Heimat dann doch nicht für völlig irrelevant. Morozov zitiert immerhin Golnaz Esfandiari, eine Iran-Korrespondentin von Radio Free Europe. Diese beklagt sich über Twitters "verderbliche Komplizenschaft, die es möglich macht, Gerüchte zu verbreiten", während der Iran in der Krise stecke. Ich war schockiert, so etwas in Morozovs Werk zu lesen: Wie kann Twitter ein "Komplize" beim Verbreiten von Gerüchten sein? Erwarten Esfandiari oder Morozov etwa, dass Online-Dienstleister die Beiträge ihrer Nutzer zensieren, bevor diese live gehen? Und falls ja, glaubt Morozov, dass Twitter der Freiheit im Netz besser diente, wenn es sich selbst zum Zensor ernenne?

Das Zitat verblüffte mich so sehr, dass ich Morozov eine Mail schrieb, um zu fragen, was genau der Leser aus seinen Äußerungen schließen solle. Morozov antwortete, er denke, dass Esfandari das nur salopp gesagt habe. Sie habe wohl gemeint, die Nutzer von Twitter seien die "Komplizen" beim Streuen der Gerüchte. Das klingt schon etwas anders, aber ohne jeden Beweis, dass Twitter allein dazu taugt, Gerüchte zu verbreitet, ist es kaum einer Anklage wert. Ich frage mich, warum es überhaupt in dem Buch vorkommt, wo Morozov doch seitenlang argumentiert, keine Information aus Twitter habe ihren Weg in den Iran gefunden. Ich fürchte, er tut es, weil ihm diese Behauptung dazu dient, den "Cyber-Utopismus" zu diskreditieren.

Denn an anderer Stelle gibt Morozov sogar der "Internet-Kultur" die Schuld am "Fortbestand vieler urbaner Mythen". Eine vollkommen verrückte Idee, bedenkt man, dass Gelehrte wie Jan Brunvand belegt haben, dass viele der heutigen Legenden ihren Ursprung im Mittelalter haben und sich seit dem großzügig vermehrten – auch ohne das Internet als Brutstätte.

Morozov steht der Fähigkeit der Technik, eine Revolution zu entfachen und Demokratie zu verbreiten, skeptisch gegenüber. Freier Zugang zu Informationen sei nicht notwendig oder auch nur wichtig, um korrupte Staaten zu kippen, sagt er. Freier Zugang zu ausländischen Medien kann Obrigkeitskritik tatsächlich verwässern.

Morozov stimmt hier ironischerweise mit seinen ideologischen Gegenspielern überein. Etwa mit Clay Shirky, einem Professor der New York University, den Morozov exemplarisch herausgreift, um ihn heftig zu kritisieren. Shirky kommt in seinem Werk The Cognitive Surplus exakt zur selben Schlussfolgerung über westliche Medien wie Morozov, insbesondere über das Fernsehen. Shirky stellt die Hypothese auf, dass Fernsehen in erster Linie dazu dient, uns durch Stumpfsinn zu betäuben. Es soll die zunehmende Freizeit füllen, die das Informationszeitalter mit sich bringt.

Nach Shirkys Ansicht ist das Internet aber vor allem deswegen so aufregend, weil es genau das Gegenteil dieser passiven Zuschauer-Erfahrung präsentiert. Es ist ein Mechanismus, der die Menschen zum Teilnehmen verlockt, indem es sie Stück für Stück immer stärker einbindet.