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Bergische Universität Wuppertal

Prof. Dr. Laszlo Tengelyi

An

Herrn Prof. Dr. Julian NidaRümelin, den Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Philosophie

Herrn Prof. Dr. Wolfram Hogrebe, ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für
Philosophie und den Herausgeber des Sammelbandes „Philosophia Hungarica“

Herrn Prof. Dr. Thomas Spitzley, den Vorsitzenden der Gesellschaft für analytische Philosophie

Frau Prof. Dr. Iris Därmann, die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische
Forschung

Herrn Prof. Dr. Markus Gabriel, den Vorsitzenden der DeutschUngarischen Gesellschaft für
Philosophie

An alle Kolleginnen und Kollegen in Deutschland

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, dass in Ungarn jüngst eine Hetzjagd gegen Philosophen
wie Agnes Heller, Mihály Vajda, Sándor Radnóti und andere begonnen hat.

Wie Sie wissen, ist vom ungarischen Parlament vor Kurzem ein Mediengesetz verabschiedet
worden, das sich mit den europäischen Normen nicht vereinbaren lässt. Dieses Mediengesetz ist
jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Es lässt sich eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen aus dem
letzten halben Jahr anführen, die auf einen Abbau demokratischer Institutionen in Ungarn
hinauslaufen. Die mit Zweidrittelmehrheit ins Parlament gewählte Partei „junger Demokraten“
(Fidesz) hat die Verfassung bisher mehr als zehnmal geändert. Das Verfassungsgericht wurde eines
wesentlichen Teils seiner Rechte beraubt. Der sogenannte „BudgetRat“, ein von der Regierung
unabhängiges, aus fachkundigen Volkswirten zusammengesetztes Organ mit der Aufgabe, die
Wirtschaftspolitik der jeweiligen Regierung zu überwachen, wurde nach ersten kritischen
Stellungnahmen aufgelöst und durch Mitglieder der Regierungspartei ersetzt. Die Position des
obersten Staatsrichters des Landes wurde ebenfalls durch einen bekannten Parteisoldaten der Fidesz
besetzt. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist im heutigen Ungarn deutlich gefährdet. Die in der
Staatsverwaltung arbeitenden Beamten, die nicht Anhänger der jetzigen Regierungspartei waren
oder geworden sind, wurden und werden massenweise – ohne Begründung – entlassen. Davon sind
keineswegs bloß politische Schlüsselpositionen, sondern grundsätzlich sämtliche Stellen im
öffentlichen Dienst betroffen. Der namhafte Volkswirt Prof. Dr. János Kornai hat aus diesen
Maßnahmen in einem – übrigens durchaus besonnenen und umsichtigen – Zeitungsartikel, den er
am 06. 01. 2011 in der Zeitung „Népszabadság“ veröffentlichte, den Schluss gezogen, dass heute in
Ungarn nicht länger eine Demokratie, sondern eine „Autokratie“ herrscUnter diesen Umständen hat
der neu ernannte Direktor des Philosophischen Instituts der Ungarischen Akademie der
Wissenschaften vier Kollegen entlassen und von 23 Kollegen insgesamt 15 Kollegen als „fachlich
ungeeignet“ qualifiziert. Diese Bewertung erstreckte sich auch auf Kollegen, die sich bereits einen
der hiesigen Habilitation äquivalenten wissenschaftlichen Grad in Ungarn erworben hatten. Gegen
diese Entlassungen sind Philosophen und Wissenschaftler aus Nachbardisziplinen im November
letzten Jahres eingetreten; Prof. Dr. Sándor Radnóti hat eine Protestaktion im Internet gestartet.
Nahezu 2000 Unterschriften wurden gesammelt, und dies nicht allein von ungarischen
Akademikern, Universitätsprofessoren und Forschern, sondern auch von bedeutenden Philosophen
und Politikern aus dem Ausland. Zur Verteidigung der entlassenen Kollegen habe ich Ende
November einen Zeitungsartikel in der ungarischen Wochenzeitung „ÉS“ veröffentlicht, in welchem
ich den Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften aufgefordert habe, eine
Untersuchung über die völlig willkürlichen und zumindest zum Teil offensichtlich unbegründeten
Entlassungen am Philosophischen Institut durchzuführen. Nichts Derartiges ist seitdem geschehen.

Vor zehn Tagen (08. 01. 2011) erschien ein Artikel in der Zeitung „Magyar Nemzet“ (Ungarische
Nation), der sich gegen einen „liberalen Kreis“ von Philosophen richtete. „Magyar Nemzet“ gilt in
Ungarn als ein der FideszRegierung nahestehendes Presseorgan. Das Wort „liberal“ verweist auf die
Partei, die in Koalition mit den Sozialisten die vorige Regierung bildete. Somit macht der Artikel
ohne Umschweife klar, dass politische Gegner unter den Philosophen angegriffen werden sollen.
Bei manchen Philosophen (wie etwa bei Prof. Dr. Béla Bacsó) wird im Artikel auch eindeutig
gesagt, dass sich bei ihm um einen Ratgeber eines liberalen Ministers der vorigen Regierung
handelt. Von einem anderen angegriffenen Philosophen heißt es, er sei „Freund“ dieses Ratgebers
gewesen. Man muss wissen, dass die Wörter „liberal“ und „linksliberal“ im heutigen Ungarn nicht
ohne einen deutlichen antisemitischen Unterton gebraucht werden. Dieser „liberale Kreis“ von
Philosophen – darunter in der Mehrzahl Kollegen, die niemals eine politische Funktion, nicht
einmal die eines Ratgebers, ausgeübt haben, sondern sich ganz der Lehre und der Forschung
widmeten – wurde nun beschuldigt, unter der Ägide des erwähnten liberalen Ministers bei einer
Bewerbung um von der Europäischen Union vergebene Förderungsgelder Forschungsanträge
bewilligt erhalten zu haben, die mit besonders hohen Summen (ungefähr jeweils mit 360.000 EUR)
dotiert waren, ohne dass ihre Anträge dem Ausschreibungstext der Bewerbung entsprochen hätten.
Bei einer derartigen Anklage ist es für Außenstehende natürlich besonders schwierig, begründeten
Protest einzulegen. Sechs Bewerbungsprojekte wurden angegriffen, die alle aus dem besagten
„liberalen Kreis“ von Philosophen stammten. Andere Fächer waren von den Anklagen nicht
betroffen. Die Projekte waren zu dieser Zeit schon durchgeführt und die Abschlussberichte auf der
Internetseite des die Bewerbungsgelder verteilenden staatlichen Organs veröffentlicht.

Diesem ersten Artikel folgte eine ganze Reihe weiterer Artikel über die sechs philosophischen
Bewerbungsprojekte in der Zeitung „Magyar Nemzet“. Man kann von einer Tag für Tag weiter
geschürten Hetzjagd sprechen. Am Mittwoch vor einer Woche (12. 01. 2011) erfuhr die
Öffentlichkeit, dass ein Bevollmächtigter der Regierung eine Untersuchung gegen die sechs
Projekte einleiten würde. Am Samstag (15. 01. 2011) wurde in der Zeitung „Magyar Nemzet“
berichtet, dass dieser Bevollmächtigte die Angelegenheit der Polizei übergeben habe, die zumindest
im Falle eines der sechs Bewerbungsprojekte eine Ermittlung „mit begründetem Verdacht“
eingeleitet habe. Gestern (18. 01. 2011) wurde eine polizeiliche Ermittlung auch im Falle anderer
Bewerbungsprojekte in derselben Zeitung in Aussicht gestellt.

Ich kann für die einwandfreie Handhabung der einzelnen Bewerbungsprojekte natürlich nicht
einstehen, weil ich keine Einzelheiten über sie weiß. Ich lebe und lehre seit zehn Jahren in
Deutschland und beteilige mich am ungarischen philosophischen Leben nur mit Vorträgen und
Veröffentlichungen. Meine langjährige persönliche Bekanntschaft mit den von den Anklagen
betroffenen Philosophen ist aber einer der Gründe, die mich an der Glaubwürdigkeit der
Beschuldigungen zweifeln lassen.

Ich möchte einige weitere Tatsachen geltend machen (darüber hinaus, dass die ganze Angelegenheit
erkennbar den Charakter einer Abrechnung mit politisch Andersdenkenden hat):
1) Es ist eine falsche und irreführende Behauptung, dass die sechs philosophischen
Bewerbungsanträge dem Ausschreibungstext nicht entsprochen hätten. Zur Erhärtung dieser
Behauptung wird meistens der Gesamttitel des 5. Programms der Bewerbung zitiert: „Erforschung
des nationalen Erbes und der sozialen Herausforderungen der Gegenwart“. Aus dem
Ausschreibungstext der Bewerbung geht jedoch deutlich hervor, wie dieses globale Thema im
Einzelnen verstanden werden soll: „Der im Zeichen der europäischen Integration eingereichte
Bewerbungsantrag soll einerseits die den Rahmen europäischer Wissenschaftlichkeit bis heute
maßgeblich bestimmenden Themen, andererseits die Integration grundlegender
humanwissenschaftlicher Fragen der Gegenwartszeit darlegen.“ Die sechs inkriminierten
Bewerbungsprojekte, die sich mit klassischen Themen der Philosophie befassen, entsprechen dieser
Beschreibung im vollen Maße.

2) Die Förderungen wurden den sechs Bewerbungsprojekten durch ein staatliches Organ in einem
öffentlichen Bewerbungsverfahren und auf Grund der Entscheidung eines aus hochqualifizierten
Fachleuten zusammengestellten Gremiums zugesprochen.

3) Die Verwendung der Förderungsgelder erfolgte, genauso wie in Deutschland, durch die
akademische Verwaltung (die Verwaltung einzelner Universitäten bzw. die Verwaltung der
Ungarischen Akademie der Wissenschaften) und unterlag der an diesen Institutionen üblichen
Regelung finanzieller Angelegenheiten.

4) Von der Untersuchung über die Verteilung der Förderungsgelder sind nur die sechs
philosophischen Bewerbungen betroffen; das Gesamtsystem der Verteilung dieser Gelder wird nicht
untersucht.

5) Diese sechs Projekte wurden deshalb ausgewählt, weil jemand Anzeige gegen die Projektleiter
und einige Beteiligte erstattet hatte. Auffällig ist, dass in zwei Artikeln der „Magyar Nemzet“ der
Direktor des Philosophischen Instituts, gegen dessen Maßnahmen die Protestaktion im November
veranstaltet wurde, als einziger Fachkundiger in Angelegenheiten der Philosophie zitiert wird, und
auch, dass einer der Hauptbeschuldigten Herr Radnóti ist, der im November letzten Jahres die
Protestaktion im Internet gestartet hat.

6) Die Projektleiter beziehen nur geringfügige Einkünfte aus der Förderung, für die sie
verantwortlich sind; die Summe dieser Einkünfte ist strikt reglementiert.

7) Die sechs philosophischen Projekte haben einer ganzen Reihe von Kollegen und sogar
Doktoranden (insgesamt mehr als hundert Personen) drei Jahre lang eine Beschäftigung ermöglicht.
Die Gelder wurden auf viele Einzelarbeiten verteilt, so dass die beschäftigten Kollegen, deren
Nettogehalt übrigens auch heute noch 1000 Euro kaum übersteigt, jeweils letztlich nur bescheidene
Beträge erhalten konnten.

8) Inzwischen finden sich die Ergebnisse der betroffenen Projekte im Internet auch für ein größeres
Publikum in knappen Zusammenfassungen dargestellt. Die einzelnen Projektleiter der
inkriminierten Projekte können jeweils um die 10 Buchveröffentlichungen und eine ganze Reihe
wissenschaftlicher Abhandlungen vorweisen. Darunter sind nicht allein philosophische
Übersetzungen und Sammelbände, sondern auch in erheblicher Anzahl Monographien. Auf eine
Buchveröffentlichung entfällt nicht einmal ein Zehntel der jeweiligen Förderungssumme, weil auch
viele Einzelabhandlungen im Rahmen von Werkverträgen geschrieben wurden, weil weiterhin ein
Teil der Förderungssumme auf Rechnergeräte und Bücher für die jeweilige Institution aufgewandt
wurde und weil ein beträchtlicher Anteil der Gesamtförderung der jeweiligen Institutsverwaltung zu
entrichten war. Mir sind neben neu herausgegebenen Platon, Nietzscheund
HeideggerÜbersetzungen einige Monographien besonders aufgefallen: Neben Büchern von Gyula
Rugási, György Tatár, Gábor Borbély möchte ich ein 600 Seiten starkes Buch über Winckelmann
von Sándor Radnóti und eine ausgezeichnete KantMonographie von einem jüngeren Kollegen
erwähnen.

9) An den sechs Projekten haben sich so viele und so hervorragende Kollegen beteiligt, dass bei
konsequenter Durchführung dieser Aktion in etwa das ganze Fach Philosophie in Ungarn
ausgerottet würde.

Es tut mir leid, dass ich Ihnen solche Nachrichten mitteilen muss. Ich wäre Ihnen sehr dankbar,
wenn Sie meinen gegenwärtigen Brief deutschen Kolleginnen und Kollegen weiterleiten und die
Angelegenheit der ungarischen Philosophie in dieser schwierigen Zeit unterstützen könnten.

Mit freundlichen Grüßen:

Laszlo Tengelyi

P. S.: Um dem gegenwärtigen Anliegen eine größere Öffentlichkeit zu geben, verständige ich die
Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung darüber,
dass ich diesen Brief den Vorsitzenden einiger größerer philosophischer Gesellschaften in
Deutschland zugeschickt habe.

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