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FOCUS Magazin | Nr. 12 (2010)
Deutschland: „Wir müssen uns eigentlich vor unseren Kindern schämen“
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  • FOCUS-Magazin-Korrespondent
  • FOCUS-Magazin-Redakteur (Berlin)

Bundespräsident Horst Köhler über weltweite Schuldenberge, das deutsche Bildungsversagen und den Stolperstart der schwarz-gelben Bundesregierung

"Ich kann nicht ausschließen – und ich sage das ganz bewusst -, dass auch Steuererhöhungen nötig sein können“

„Diejenigen, die sich an die Regeln halten und Steuern zahlen, die müssen sich doch manchmal richtig verladen vorkommen“

„Wir werden eine Ordnung der Freiheit nur bewahren können, wenn der Staat den Kampf gegen das große Geld aufnimmt – und gewinnt“

„Es ist an der Zeit, das für viele Undenkbare zu denken: Wir brauchen geordnete Insolvenzverfahren nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Staaten“



Herr Bundespräsident, Sie waren sehr still: in den vergangenen Monaten. Warum?

Ich finde es nur fair, einer neuen Bundesregierung 100 Tage Zeit zu geben.

Das Volk hat Sie offensichtlich vermisst. In vielen Zeitungen war schon der Satz zu lesen: Wo ist Köhler?

Bei der Arbeit. Und ich entscheide selbst, wann ich mich zu Wort melde. Herzlich willkommen, die Herren.

In den ersten 100 Tagen und danach hat die schwarz-gelbe Koalition so schnell Ansehen verspielt wie kaum eine Regierung vorher. Besorgt Sie das?

Ja. Bei der Ernennung der Bundesregierung im Oktober habe ich ein paar Sätze gesagt, mit Bedacht: Ihr habt eine ordentliche Mehrheit. Das Volk erwartet jetzt tatkräftiges Regieren. Daran gemessen, waren die ersten Monate enttäuschend. Das Gute ist: Darüber sind sich die Beteiligten selbst klar.

In dieser Ernennungsrede hatten Sie die Regierung gemahnt, vor allem gegen die gigantische Staatsverschuldung anzugehen. Ist Ihre Botschaft angekommen?

So langsam, glaube ich, tritt Realismus ein. Wir brauchen eine Lösung für das Megaproblem Schulden. Die offiziell ausgewiesene Staatsverschuldung liegt heute in Deutschland bei über 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn wir die impliziten Schulden – also vor allem Renten und Pensionen – dazunehmen, sind wir bald bei mehr als 250 Prozent.

Sind Steuererleichterungen für Hoteliers und höheres Kindergeld, wie gerade eingeführt, die richtigen Signale? Beides erhöht die Staatsschulden noch.

Die Einzelmaßnahmen sind bereits kritisch genug beleuchtet worden. Ich will aber sagen: Mich hat schon der Begriff „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ nachdenklich gemacht, unter dem diese Dinge zusammengefasst wurden. Als sei es der Staat, der für immer mehr, immer schnelleres Wachstum sorgen könne. Über eine solche Staatsgläubigkeit wundere ich mich.

Die Politiker reden so, weil sie glauben, dass die Bürger genau das hören wollen.

Die Bürger sind vernünftiger. Die sind nicht an falschen Versprechen interessiert. Sie wollen, dass es fair zugeht. Und dass mit ihrem Geld Positives bewirkt wird. Wir müssen weg von schuldengetriebenem Konsum. Davon wieder runterzukommen ist schwer wie ein Drogenentzug, aber unumgänglich für nachhaltiges Wachstum, das allen Menschen dient.

Im Drogenentzug geht es dem Patienten erst mal schrecklich schlecht, bevor es besser wird. Müssen die Deutschen auch durch diese Phase?

Nicht nur die Deutschen, sondern die meisten westlichen Gesellschaften. Die haben sich gewöhnt an das Verheißungsprinzip Wachstum, an immer mehr aufgeheizten Konsum, koste es, was es wolle. Und die Politik verspricht immer mehr von diesem Wachstum, ob die Menschen nun Schulden wollen oder nicht. Ich glaube, die Leute erkennen zunehmend: Wir haben nicht das Recht, die Freiheit unserer Kinder immer stärker einzuschränken.

Wer hat nicht lieber drei als zwei Autos in der Garage stehen?

Ich habe meine Zweifel, ob die Leute glücklicher sind mit drei statt zwei Autos. Und ich habe das Gefühl, dass sich immer mehr Menschen die Frage stellen: Wie viel ist genug?

Glücklich werden durch Askese! Sie klingen wie ein grüner Wachstumsskeptiker.

Nein, ich sehe die Aufgabe positiv: Wir müssen jetzt den Paradigmenwechsel hin zu einer Wirtschaftsweise einleiten, die unser Planet verkraftet und die letztlich auch mehr Sinn stiftet. Der Befund ist doch eindeutig: Die Rohstoffe werden knapper, die Energie wird knapper, die Umweltschäden werden größer. Für mich gibt es keinen Zweifel: Die Nation, die sich am schnellsten, am intelligentesten auf diese Situation einstellt, wird Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen.

Das heißt auch: Der Staat soll sich stärker einmischen?

Staat und Markt müssen intelligenter zusammenwirken. Ich will keine staatliche Intervention, sondern eine intelligente Förderung von Innovation – zum Beispiel durch die steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung in den Unternehmen. Wenn wir es nicht richtig anpacken, verlieren wir Zeit und damit auch Arbeitsplätze und Einkommen. Wenn wir grünes Wachstum voranbringen, werden wir alle profitieren. Auch auf die Gefahr hin, mich jetzt mit vielen anzulegen: Wir sollten zum Beispiel darüber nachdenken, ob der Preis von Benzin nicht tendenziell höher als tendenziell niedriger sein sollte. Das Preissignal ist immer noch das stärkste Signal, damit Menschen ihr Verhalten ändern.

Unter höheren Benzinpreisen leiden vor allem jene Menschen, die wenig Geld haben. Wollen Sie das?

Sozialer Ausgleich dafür ließe sich mit staatlichen Mitteln organisieren. Das ist kein Problem, vor dem wir zurückschrecken sollten. Denn auch die Menschen, denen es materiell nicht so gut geht, werden langfristig nicht besser dastehen, wenn wir das Umsteuern auf neue, umweltfreundliche Produkte, auf ein ökologisches Wachstum verschlafen. Gerade sie sind doch darauf angewiesen, dass für sie Arbeitsplätze entstehen.

Die stellt in Deutschland vor allem die Automobilwirtschaft. Zu Recht unser Stolz?

Klar können wir auf unsere Produkte stolz sein. Wir bauen die besten Autos. Aber mir macht Sorge, dass unsere Volkswirtschaft in so hohem Maße vom Auto abhängt. Sechzig Prozent der gesamten Innovationen ranken ums Auto, sagte mir jemand aus der Branche stolz. Mich macht das eher nervös.

Wieso?

Es ist wie bei der Finanzkrise. Wir müssen den Kapitalismus vor sich selber schützen. Das gilt auch für die Automobilindustrie. Die Premium-Autos, in denen wir stark sind, verbrauchen immer noch zu viele Ressourcen. Auch das ist ein Thema, das uns auf dem falschen Fuß erwischt. Wir müssen aufpassen, dass wir keine falschen Strukturen zementieren. Wissen Sie, das Auto wird bleiben. Aber es braucht Konkurrenz. Wir müssen nicht nur entschlossen umweltfreundlichere Autos entwickeln. Wir müssen auch rechtzeitig über neue Mobilitätskonzepte nachdenken. Die Welt wartet darauf.

Angesichts der gigantischen Staatsschulden heißt es aber jetzt für die Deutschen erst mal, den Gürtel enger zu schnallen?

Wir müssen sparen, ohne jeden Zweifel. Aber sparen mit Zielen. Sie können die erhöhte Neuverschuldung nicht binnen ein, zwei Jahren herunterfahren auf null. Das ist ein langfristiger Prozess, der vielleicht 20 Jahre dauert. Das Sparen muss eingebettet sein in ein quantitatives und qualitatives Konsolidierungsprogramm. Es geht um einen neuen Aufbruch zu Reformpolitik.

Nach den Erfahrungen der letzten Jahre ist „Reform“ in Deutschland zu einem Unwort geworden. Das klingt in den meisten Ohren nach Verzicht, nach Einschränkung, nach Opfern.

Reform richtig verstanden heißt: Wir müssen uns auf die Herausforderungen einstellen, die heute noch am Horizont liegen. Darin besteht unsere Verantwortung. Wir brauchen Langfristigkeit in der politischen Gestaltung und müssen Abstand nehmen von kurzlebigen Programmen. Wir brauchen auch Geld, um neue, dynamische Kräfte zu wecken. Deshalb kann ich nicht ausschließen – und ich sage das ganz bewusst -, dass auch Steuererhöhungen nötig sein können.

Würgt das nicht die wirtschaftliche Erholung ab?

Entscheidend ist, was mit den Mehreinnahmen geschieht. Ich fand es nicht gut, dass die große Koalition die Mehrwertsteuer um drei Punkte erhöht und einen erheblichen Teil des Geldes dazu verwendet hat, Löcher im Haushalt zu stopfen. Es wäre besser dazu verwendet worden, unsere sozialen Sicherungssysteme stärker auf eine Steuerfinanzierung umzustellen, um es so auch leichter zu machen, dass neue Arbeit entsteht. Und ich bin sicher: Wenn wir uns anstrengen, können wir unseren Sozialstaat auch deutlich effizienter gestalten.

Von einem Absenken der Steuersätze halten Sie nichts?

Ich sehe derzeit keinen Spielraum für massive Steuersenkungen. Das wäre ein Vabanque-Spiel. Davon rate ich ab. Zielgerichtete Steuersenkungen sind denkbar in einem schlüssigen finanzpolitischen Gesamtkonzept. Sinnvoll ist die steuerliche Begünstigung von Forschung und Innovation in den Unternehmen, aber auch eine steuerliche Entlastung der Mittelschicht. Die wird ja immer wieder vergessen in der Diskussion. Diejenigen, die sich an die Regeln halten und Steuern zahlen, die müssen sich doch manchmal richtig verladen vorkommen. Ein junges Ehepaar mit zwei Kindern, das kommt gerade mal so hin. Für die Mittelschicht muss etwas geschehen.

Und wer soll dann mehr Steuern bezahlen?

Ich würde zunächst um eine internationale Abgabe auf Finanztransaktionen kämpfen. Die „Finanzindustrie“ muss sichtbar an der Bewältigung der Kosten der Krise beteiligt werden. Da wünsche ich mir auch europäische Einigkeit. In jedem Fall müssen wir sicherstellen, dass wir das notwendige Geld für eine große Anstrengung für Bildung haben. Fast ein Drittel unserer gesamtwirtschaftlichen Leistung wenden wir auf für staatliche Sozialleistungen, aber nur gut sechs Prozent für Bildung. Angesichts dieser Relation müssen wir uns eigentlich vor unseren Kindern schämen. Dazu toben in der Bildungspolitik parteipolitisch gefärbte Kämpfe um Schulstrukturen, die keinem Lehrer und keinem Kind helfen.

Wir kennen keinen Politiker, der den Satz: „Mehr Geld für Bildung!“ nicht unterschreiben würde.

Und trotzdem kommen wir nur im Schneckentempo voran. Hier steht unser Föderalismus in einer Verantwortungsprobe. Gerechtigkeit bekommen wir nicht durch immer mehr Umverteilung. Wir bekommen mehr Gerechtigkeit, wenn wir Chancen eröffnen. Rund 60000 Kinder pro Jahr verlassen die Schule ohne Abschluss. Bei Kindern mit Migrationshintergrund sind das mehr als 15 Prozent. Das ist eine menschliche und eine gesellschaftliche Katastrophe. Unser System ist einfach unfair zu diesen Kindern. Das müssen wir ändern.

Im Verteilungskampf um die begrenzten Steuermittel wird im Zweifel immer mehr Geld für Soziales als für Kitas, Schulen oder Unis eingesetzt. Wie ist das zu drehen?

Indem man nie vergisst, dass man in eine gute Zukunft auch investieren muss. Vor allem Bildung braucht einen langen Atem. Aber Investition in Bildung ist das Beste, was man in diesem Land tun kann. Deshalb lautet meine Bitte: Bildung, Demografie, Schulden müssen als langfristige Aufgaben verstanden und angegangen werden.

Sie haben vor einigen Jahren gesagt: Zur Modernisierung eines Landes gehört Führung. Sind Sie zufrieden, wie Deutschland geführt wird?

Führung wird an Lösungen gemessen.

Das ist jetzt das Prinzip Hoffnung?

Ich weiß doch auch: Es ist heute sehr viel schwerer geworden, Politik ergebnisorientiert zu organisieren. Die Träger der Verantwortung sollten sich aber nicht zu viele Nebensächlichkeiten aufhalsen lassen. Sie müssen sich um die großen Fragen kümmern: Das ist die demografische Entwicklung. Das ist Arbeit für alle, die Erfahrung, gebraucht zu werden. Das ist Umsteuerung auf erneuerbare Energien und Ressourcen sparende Produktion. Moderne Politik im 21. Jahrhundert muss sich wieder mehr den Sachfragen zuwenden.

Die aktuelle politische Debatte wird allerdings beherrscht von der Frage, wie stark ein Minister persönliche oder Partei-Interessen mit Wirtschafts-interessen verquicken darf. Wie viel persönliches Vorbild muss ein Politiker zeigen?

Es gibt keinen Anspruch auf Übermenschen in der Politik. Persönliche Integrität ist allerdings zu erwarten. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass es hier um ein Kernproblem in unserer Republik geht. Die Angriffe auf den Außenminister halte ich in dieser Frage für überzogen. Mein Rat ist es, in Zweifelsfällen so zu handeln, dass schon der Anschein von Interessenskonflikten nicht auftaucht.

Ist Deutschland auf dem Weg zu „spätrömischer Dekadenz“, wie Außenminister Guido Westerwelle meint?

Ich will das nicht kommentieren.

Der FDP-Vorsitzende ist für seine Worte heftig kritisiert worden – bis hin zum Vorwurf von SPD-Chef Gabriel, er sei „ein Radikaler im öffentlichen Dienst“. Was halten Sie von dieser Art der politischen Debatte?

Ich bin nicht glücklich darüber. Ich glaube, man kann diese wichtigen Themen anders anpacken und so mehr erreichen. Eine Sozialstaatsdiskussion, in der die einen immer nur an Umverteilung denken und die anderen die Arbeitslosen vor allem in der Hängematte sehen, hilft keinem weiter.

Wollen Sie bestreiten, dass es Missbrauch von Hartz IV gibt?

Nein. Es gibt Missbrauch bei Hartz IV, keine Frage. Aber ich sage auch: Dann setzt diesen Missbrauch in Relation zum Missbrauch ganz oben in der Gesellschaft. Dort wurde in der Finanzkrise sehr viel Schaden angerichtet. Die ganze Debatte wäre produktiver, wenn wir erkennen würden: Die allermeisten, die arbeitslos sind, wollen arbeiten. Viele Kinder und Familien geraten in innere Not, die auch mit mehr Geld nicht zu beheben ist, wenn zum Beispiel der Vater viele Jahre arbeitslos ist. Da bricht etwas weg. Da müssen wir gezielt hinschauen und ansetzen. Es geht um das, was Menschen für Menschen tun. Auch in der Arbeits- und Sozialverwaltung. Es reicht nicht, allein auf staatliche Beglückungsprogramme zu setzen.

Wollen Sie den Staat aus der Pflicht nehmen?

Überhaupt nicht. Ich schildere Ihnen ein Beispiel für das, was ich meine: Ich war vor ein paar Tagen bei einem Benefizkonzert in Niedersachsen. Dort wurde Geld eingespielt für das Bürgerprojekt „Eine Chance für Kinder“, das Hebammen ausbildet zu Familien-Hebammen. Die gehen für ein Jahr in sozial schwache Familien oder zu Minderjährigen, die Mütter werden. Hier reagiert die Gesellschaft auf ein soziales Problem. Da kann ich nur sagen: Gut so. Helft. Und ich sage auch: Gebt den Leuten Freiraum für ihren Einsatz. Dann wächst Zuversicht.

Wollen sich genug Menschen engagieren?

Die Mitgliederzahlen der Parteien gehen insgesamt zurück. Aber die Zahl der Bürgerinitiativen, Projektgruppen, Stiftungen wächst. Deshalb empfehle ich uns Politikern auch immer, den Bürgern zuzuhören. Das müssen wir tun, um die Sorgen der Menschen zu kennen, aber auch ihre Ideen, ihr Engagement.

Die Rekordschulden sind aktuell verursacht durch die Folgen der Finanzkrise. Die Mehrzahl der Deutschen hat das bittere Gefühl, für Fehler zu haften, die andere gemacht haben, die schadlos davonkommen. Teilen Sie diesen Befund?

So pauschal nicht. Aber betrügerisches, kriminelles Verhalten muss geahndet werden. Allerdings, der Finanzkrise liegt auch Staatsversagen zu Grunde: Unzureichende Regeln und unzureichende Aufsicht, zum Beispiel bei den Landesbanken. Wir haben aber auch erlebt, dass sich Freiheit auf den Märkten nicht genug in Verantwortung gebunden hat. Diese Freiheit zerstört. Wir brauchen bessere Regeln, und wir brauchen Moral.

Gehen die Regierungen zu zögerlich vor?

Es geht darum, dass der Staat sich durchsetzt als Autorität, die Regeln setzt und ihre Einhaltung überwacht. Es geht um das Primat der Politik in der Demokratie. Wir werden eine Ordnung der Freiheit nur bewahren können, wenn der Staat den Kampf gegen das große Geld aufnimmt – und gewinnt.

Im Moment überwiegt der Eindruck, dass jedenfalls die großen Akteure auf den Finanzmärkten weiterhin ungehemmt ihr Spiel spielen. Und jetzt sogar gegen ganze Staaten und deren Währungen spekulieren wie im Fall Griechenland.

Die Kernursache des Problems liegt in Griechenland selbst. Aber es ist wahr und bestätigt sich erneut: Große Teile der Finanzbranche haben bis heute nichts gelernt. Deshalb ist die Frage, ob die Regulierung dieser Märkte gelingt, eine Schlüsselfrage. Nicht nur für die Banken, nicht nur für künftiges Wachstum, sondern für die Demokratie. Die Spielregeln in der Demokratie muss die Gemeinschaft setzen, repräsentiert durch den Staat. Die Regeln dürfen nicht diejenigen setzen, die so viel Geld haben, dass sie meinen, sich alles kaufen zu können. Die Welt darf nicht vom Geld regiert werden. Sondern von Menschen, die einen legitimierten Auftrag haben, Verantwortung zu tragen.

Herr Bundespräsident, wenn Sie im Restaurant oder im Buchladen mit Euro bezahlen, rechnen Sie das im Kopf noch in D-Mark um?

Nein, tue ich nicht. Aber das liegt vor allem daran, dass meist meine Frau bezahlt.

Haben Sie noch Münzen oder Scheine aus der D-Mark-Zeit aufgehoben?

Als eiserne Reserve unterm Kopfkissen, meinen Sie?

Oder aus Anhänglichkeit an die alte Währung.

Nein, dieses Bedürfnis hatte ich nie. Der Euro ist eine gute Sache. Er bietet Schutz.

Der – anders als die D-Mark – allerdings kräftig bröckelt.

... aber wir sollten uns jetzt besser nicht ausmalen, wie es um die D-Mark in der Finanzkrise stünde ...

Als Staatssekretär im Finanzministerium haben Sie vor fast 20 Jahren kräftig am Regelwerk des Euro mitgeschrieben. Rechneten Sie damals damit, dass der Euro einmal so sehr in die Bredouille kommt? Mehrere Euro-Länder kämpfen gegen den Staatskonkurs.

Viele der Unterhändler, auch ich, haben damals gemahnt: Wer den Euro einführt, für den beginnt eine neue Zeit. Denn ökonomische Unterschiede zwischen den Staaten lassen sich dann nicht mehr über die Wechselkurse ausgleichen. Damit es nicht zu übergroßen Spannungen innerhalb der Euro-Zone kommt, müssen die Staaten ihre Hausaufgaben in Sachen Schulden, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit eigenständig machen. Leider sind diese Warnungen von vielen Mitgliedsstaaten der Euro-Gruppe, aber auch von der Europäischen Kommission in den Wind geschlagen worden.

Sind die Regeln des Euro falsch, oder haben sich die Politiker nicht an die Regeln gehalten?

Es war von Anfang an ein Risiko, dass die Geldpolitik zentralisiert wurde, aber die Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht. Ich gebe freimütig zu: Auch wir Deutsche haben spät erkannt, wie notwendig eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der Euro-Gruppe ist.

Soll Brüssel künftig über deutsche Steuern und Schulden entscheiden?

Nein. Nicht entscheiden. Aber wir brauchen eine effektive Koordinierung der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken. Wenn einem Land im Euro-Raum die Schulden aus dem Ruder laufen, dann holt das alle anderen ein. Die Euro-Zone ist eine Schicksalsgemeinschaft. In diesem Bewusstsein müssen die Staaten ihre Politik abstimmen. Das heißt nicht, dass alle das Gleiche machen müssen. Das heißt auch nicht, dass wir etwa unsere Sozialsysteme alle auf den gleichen Nenner bringen. Aber es heißt, dass Unterschiede in der Produktivität, in der Zinsentwicklung, in den Lohnkosten nicht so groß werden dürfen, dass die Spannungen am Ende zum Knall führen.

Auf die Frage, ob die Währungsunion die Pleite eines Landes zulassen könne, haben Sie Anfang der 90er-Jahre gesagt: „Wieso denn nicht?“ Der Fall Griechenland zeigt: Kein Euro-Staat will die Pleite eines anderen zulassen.

Die Situation in Griechenland verlangt eine Lösung, in der Solidarität sichtbar ist. Aber losgelöst vom Fall Griechenland will ich ganz eindeutig sagen: Es kann Staaten geben, die mit ihren Schulden nicht mehr fertigwerden. Deshalb ist es an der Zeit, das für viele Undenkbare zu denken: Wir brauchen geordnete Insolvenzverfahren nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Staaten.

Diese Idee haben Sie bereits als Chef des Internationalen Währungsfonds propagiert – und sind gescheitert.

Wir haben schon damals erlebt, wie stark die Lobby der Banken und privaten Finanzinstitute sein kann. Dieselben Akteure haben uns jetzt eine Krise eingebrockt, die den Staaten gewaltige neue Schulden aufbürdet. Wie man damit fertigwird, ist auch eine soziale Frage.

Unterstützen Sie damit die Idee eines Europäischen Währungsfonds, wie ihn Finanzminister Wolfgang Schäuble vorgeschlagen hat?

Wolfgang Schäuble verlangt vor allem schärfere Regeln zur Einhaltung von Finanzdisziplin und Strukturreformen in den Mitgliedsländern der Euro-Gruppe. Das unterstütze ich nachdrücklich. Der Begriff „ Europäischer Währungsfonds“ kann in die Irre führen, weil sofort die Frage auftaucht: Ist das eine Konkurrenzveranstaltung zum Internationalen Währungsfonds? Das will niemand. Aber der Gedanke, dass als Ultima Ratio auch die Insolvenz eines Staates in Betracht kommt, der ist richtig.

Wem soll eine Pleite nützen?

Wenn ein Staat in die Zahlungsunfähigkeit gerät, dann ist die größte Gefahr, dass Chaos ausbricht. Dass es zu sozialen und politischen Unruhen kommt. Deshalb brauchen wir ein geordnetes Verfahren. Damit jeder weiß, welche Stellen kümmern sich, welche Spielregeln gelten jetzt. Was muss das betroffene Land ändern? Und es geht auch um die Frage, auf wie viel Geld die Gläubiger unter Umständen verzichten müssen. Wenn es dafür Antworten gibt, dann ist ein Neustart möglich. Einen solchen Ansatz hat der amerikanische Finanzminister Nick Brady in Lateinamerika erfolgreich umgesetzt.

Heißt das für die Euro-Zone auch: Es kann Länder geben, die wieder rausmüssen?

Das ist wiederum eine ganz andere Frage. Sie stellt sich viel weniger, wenn man aufhört, überschuldete Staaten mit immer neuen Krediten rauszuhauen. Das zwingt dazu, sich die Mitgliedschaft in der Euro-Gruppe immer wieder neu zu verdienen. Diese Kultur muss das Ziel sein. Das ist erreichbar.

Herr Bundespräsident, wer Ihnen so zuhört, hat das Gefühl: Sie würden am liebsten öfter zum Telefonhörer greifen und einigen Staatschefs dieser Welt mal so richtig die Meinung sagen – so wie früher als oberster Krisenmanager beim Internationalen Währungsfonds.

Wie sagt der weise Salomon: Alles hat seine Zeit.

„Ich kann nicht ausschließen – und ich sage das ganz bewusst -, dass auch Steuererhöhungen nötig sein“ können

„Diejenigen, die sich an die Regeln halten und Steuern zahlen, die müssen sich doch manchmal richtig verladen vorkommen“

„Wir werden eine Ordung der Freiheit nur bewahren können, wenn der Staat den Kampf gegen das große Geld aufnimmt – und gewinnt“

„Es ist an der Zeit, das für viele Undenkbare zu denken: Wir brauchen geordnete Insolvenzverfahren nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Staaten“

Klare Worte vom Staatsoberhaupt


Am Dienstag wird im Schloss Bellevue festlich eingedeckt. Der Bundespräsident hat das Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel zum Abendessen in seinen Berliner Amtssitz geladen. Es ist das erste Mal, dass Horst Köhler, 67, mit der schwarz-gelben Regierung zum Plausch zusammenkommt.

Im Jahr 2004 wurde Köhler von den beiden Parteichefs Merkel (CDU) und Guido Westerwelle (FDP) als Bundespräsident ausgewählt. In dieser Zeit der rot-grünen Regierung galt der Finanzfachmann Köhler, damals Chef des Internationalen Währungsfonds, als Vor-bote einer kommenden schwarz-gelben Regierung.

Es kam anders, es kam die große Koalition. Erst seit Oktober 2009 ist Schwarz-Gelb an der Macht. Köhler, der im Mai 2009 wiedergewählt wurde, hat das Treiben der neuen Regierung über Monate still beobachtet. Zunächst wohlwollend, zunehmend enttäuscht.

Öffentlich griff er nicht ein. Er hielt sich so sehr zurück, dass er sich zuletzt dem Vorwurf der Opposition ausgesetzt sah, er traue sich nicht, Merkel und Westerwelle zu kritisieren.

Die Zeit der Zurückhaltung ist vorbei. Im FOCUS-Interview rechnet Köhler mit der Regierung, mit der Debattenkultur der politischen Klasse und dem „großen Geld“ ab. Aber er kritisiert nicht nur, sondern entwickelt ein Konzept für die politische und wirtschaftliche Gesundung der Republik. Was Köhler vorträgt, ist das Regierungsprogramm eines Präsidenten, der nicht regieren darf.

Die Leserdebatte von FOCUS und FOCUS Online – Soll der Bundespräsident mehr Macht bekommen?


In unserem neuen Meinungsforum debattieren unsere Leser das Thema der Woche. Beiträge können Sie unter www.focus.de/magazin/debatte einstellen, an debatte@focus-magazin.de mailen, an 089/9250-2620 faxen. Die besten Texte drucken wir nächste Woche, leicht gekürzt, auf der neuen Leserdebatten-Seite. Bedingung: Sie schreiben unter Ihrem echten Namen und verwenden kein Pseudonym.
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