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S.P.O.N. - Im Zweifel links Das System schlägt zurück

Der Westen versagt im Angesicht seiner Kritiker: Assange, Anonymous, Occupy - wer sich mit dem System anlegt, wird zum Straftäter erklärt und muss um seine Sicherheit fürchten.

Julian Assange ist ein Flüchtling. Aber er flieht nicht vor dem Gesetz. Sondern vor dem Unrecht. Er weiß, was ihm blühen könnte. Assange hat Amerika gedemütigt. Es wird keine Gnade kennen, wenn es seiner habhaft wird. Und die Auslieferung nach Schweden, vor der sich der WikiLeaks-Gründer jetzt schützen will, wäre möglicherweise der erste Schritt auf einer langen Reise, die mit einer Verurteilung zu ein paar hundert Jahren in irgendeinem fensterlosen Loch eines amerikanischen Hochsicherheitsgefängnisses enden könnte.

Die Anschuldigungen, die in Schweden gegen Julian Assange vorliegen, sind fragwürdig. Es geht um den Verdacht der Vergewaltigung in einem minder schweren Fall und um sexuelle Nötigung und Belästigung. Assange bestreitet die Vorwürfe, spricht von einer Schmierkampagne.

Die "taz" empfiehlt Assange, die Botschaft zu verlassen und sich nach Schweden ausliefern zu lassen und weiß ganz genau: "Wenn sich die Vorwürfe als haltlos erweisen, ist er ein freier Mann." Man kann die Kollegen an der Dutschke-Straße dazu beglückwünschen, dass sie noch solches Vertrauen in den Rechtsstaat haben.

Zweifel am Rechtsstaat

Es gibt gute Gründe, an dieser Vorstellung vom Rechtsstaat zu zweifeln. Wer diesem Rechtsstaat in die Quere kommt, kann sich auf einiges gefasst machen: Der Gefreite Bradley Manning, der wohl die wichtigste Quelle für WikiLeaks war, verbrachte zehn Monate in Isolationshaft. Kissen und Laken waren ihm eine Zeitlang verwehrt. Er musste nachts seine Kleider abgeben und morgens mehrfach nackt vor seiner Zelle antreten. Körperliche Übungen in der Zelle waren ihm verboten. Das Licht brannte unablässig. Das ist der Rechtsstaat.

Wir beobachten eine schwere Legitimationskrise des Westens. Assange, Anonymous, Occupy - das sind die Symptome dafür. Was Gesetz ist und was als Recht empfunden wird, geht immer weiter auseinander.

Das Gesetz ist klar: Es ist verboten, Dokumente der nationalen Sicherheit zu veröffentlichen. Es ist verboten, in die Datenbanken von Kreditkartenunternehmen einzubrechen. Es ist verboten, öffentliches Straßenland zu besetzen. Und weil all das verboten ist, ist die Sache mit Assange, Anonymous und Occupy ganz einfach: anzeigen, anklagen, aburteilen.

Und übrigens: Es ist tatsächlich auch verboten, in einer russisch-orthodoxen Kirche Punk-Gebete zu singen.

Das Gesetz schützt eben nicht immer das Recht: Wir sehen zu, wie sich die Amerikaner in ihren Kriegen weder um ihr eigenes noch um sonst ein Recht kümmern. Wir sehen zu, wie unsere Gesellschaft zur Geisel der Gier der kriminellen Akteure an den Finanzplätzen geworden ist. Wir dulden, dass die Institutionen, die das Wohl der Vielen vor dem Zugriff durch die Interessen der Wenigen schützen sollen, umgangen oder ignoriert werden. Und wir dulden, wie diejenigen, die dagegen aufbegehren von den Sicherheitsbehörden verfolgt und kriminalisiert werden.

Das Vertrauen ist zerbrochen

Es ist in unserem System nicht vorgesehen, dass die Leute ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen: "Dafür haben wir Parlamente und Gerichte, also den Rechtsstaat", sagte "Zeit"-Mitherausgeber Josef Joffe damals, als WikiLeaks die State-Departement-Files veröffentlicht hatte.

Aber Folter in Abu Ghuraib, das Waterboarding in den CIA-Gefängnissen, das Niedermähen unbewaffneter Zivilisten in Afghanistan - vieles von dem, was die USA in den vergangenen Jahren in gefährliche Nähe zu den Unrechtsregimen im Nahen Osten, zu China und zur untergegangenen Sowjetunion gebracht hat, kam an den Tag, weil sich Leute wie Julian Assange nicht auf "Parlamente und Gerichte" verlassen haben.

In unserem System sollen die Leute alle paar Jahre ihre Stimme abgeben - und dann schweigen.

Das System - das ist keine linke Folklorefloskel aus einem Siebziger-Jahre-Suhrkamp-Sammelband, sondern kühle Wirklichkeit. Nach den WikiLeaks-Veröffentlichungen haben Mastercard und Visa die Spendenabwicklung für die Organisation verweigert und Amazon hat die WikiLeaks zur Verfügung gestellten Server-Kapazitäten zurückgezogen. Einfach so.

Das System wird durch sein Geflecht aus Herrschaft und Interessen bestimmt und gehalten wird es durch die Überzeugung der stillschweigenden Mehrheit, dass alles seine Ordnung hat. Aber die Ordnung ist zerbrochen. Das Vertrauen ist zerbrochen.