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Tsunami-Alarm Geologischer Zufall rettete Anrainer vor der großen Welle

Der Tsunami-Alarm nach dem Mega-Beben vor Chile weckte größte Befürchtungen. Aber Besonderheiten im Inneren der Erde führten zu kleineren Wellen, als Experten erwartet hatten. Die Uno bewertet ihr Pazifik-Warnsystem nun erstmals als gelungen - doch es gibt auch Manöverkritik.
Ausbreitung der Flutwelle: Tsunamis haben sich in mehrere Äste aufgespalten

Ausbreitung der Flutwelle: Tsunamis haben sich in mehrere Äste aufgespalten

Foto: NOAA

Das Erdbeben von Samstag hat in Chile eine Katastrophe verursacht. Fast wäre es sogar noch schlimmer gekommen. 30 Stunden lang rasten Tsunamis über den Pazifik, von denen niemand wusste, wie groß sie sind. Unklar blieb, ob die Tsunami-Warnungen bei den Küstenbewohnern abgelegener Inselstaaten angekommen waren. Die Sorge war gut begründet: Bisher hatte noch jede Tsunami-Warnung einen Großteil der Empfänger verfehlt.

Doch diesmal feiern die Vereinten Nationen (Uno) die Warnung als Erfolg. "Es ist gelungen, alle Pazifikstaaten nach spätestens einer Stunde zu alarmieren", sagte der Leiter der Tsunami-Abteilung der Uno, Peter Koltermann SPIEGEL ONLINE. "Wir waren durchaus überrascht, wie schnell die Warnung überall ankam."

Allerdings begünstigten Besonderheiten im Inneren der Erde den Ablauf: Zwei Zufälle sorgten offenbar dafür, dass die Tsunamis kleiner ausfielen als befürchtet. Zum einen brach das Gestein bei dem Beben in vergleichsweise geringer Wassertiefe, weshalb weniger Wasser in Bewegung gesetzt wurde. Zum anderen baute sich die Spannung nicht mit einem Schlag ab. Ungewöhnlich viele starke Nachbeben setzten einen Teil des angestauten Drucks frei. Lediglich nahe gelegene Küsten wurden von Riesenwellen getroffen, dort starben anscheinend dadurch Dutzende Menschen.

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Tsunami-Alarm: Die Gewalt des Wassers

Foto: STRINGER/CHILE/ REUTERS

Es hätte aber viel schlimmer kommen können. Vor der Küste Chiles liegt die gefährlichste Erdplattengrenze des Planeten, nirgendwo sonst ereignen sich so viele Starkbeben. Dort schiebt sich der Boden des Pazifiks mit der in geologischen Maßstäben hohen Geschwindigkeit von acht Zentimetern pro Jahr unter den südamerikanischen Kontinent. Zwischen den riesigen Felsschollen bauen sich immense Spannungen auf, die sich regelmäßig bei Erdbeben entladen.

Sowohl nördlich als auch südlich des Bebenherds vom Samstag hat es im vergangenen Jahrhundert besonders starke Schläge gegeben. Im November 1922 bebte es 870 Kilometer nördlich mit der Stärke 8,5; ein lokaler Tsunami verwüstete daraufhin Küsten in Chile. Am 22. Mai 1960 krachte es 230 Kilometer südlich des aktuellen Bebenherds so stark wie nie seit Beginn der Erdbebenmessungen. Das Beben der Stärke 9,5 schickte riesige Tsunamis an die Küsten des Pazifiks. Noch auf Hawaii, auf den Philippinen und im 12.000 Kilometer entfernten Japan rissen die Wellen Tausende von Menschen in den Tod.

Im Gestein zwischen jenen beiden Brüchen jedoch hatte sich die Spannung nicht abgebaut. Am Samstag entlud sie sich in einer Tiefe von 35 Kilometern unter dem Meeresboden bei dem Beben der Stärke 8,8. Es war eines der schwersten Beben seit Beginn der Messungen. Knapp 100 Kilometer vor der Küste brach der Meeresboden, er versetzte dem Wasser mehrere Schläge - Tsunamis wurden ausgelöst.

Unterseeberge kanalisieren die Tsunamis

Die Warnung vom Samstag hat gezeigt, dass Wissenschaftler trotz aller Technologie noch weit davon entfernt sind, die Tsunami-Gefahr präzise einzuschätzen. Neben dem Auslösemechanismus der Riesenwellen, sorgt auch die Ausbreitung der Wellen für Unsicherheiten: Unterseeberge kanalisieren die Tsunamis, die von der Meeresoberfläche zum Grund reichen. Die Höhe der Wellen unterscheidet sich mithin je nach Region. So kam es, dass Japan die Tsunami-Gefahr heraufstufte, obwohl auf Hawaii kurz zuvor ungefährliche Wellen durchgelaufen waren. Die Tsunamis hatten sich in mehrere Äste aufgespalten (siehe Grafik oben).

Der glimpfliche Verlauf erschwert es, den Erfolg der Tsunami-Warnung einzuschätzen. Denn ob die Warnung nicht nur die Behörden der betroffenen Länder, sondern tatsächlich auch die meisten Küstenbewohner erreicht hat, ist unbekannt. Anscheinend habe die Warnung selbst Pfahlbauten-Bewohner auf Südseeinseln erreicht, meint Koltermann. Doch wie einzelne Staaten die Weitergabe der Warnung organisiert hätten, sei weitgehend unklar, räumt er ein. Die sogenannte Letzte Meile des Alarms liege im Hoheitsbereich der Staaten, die Uno könne also kaum Einfluss nehmen.

Samoa 2009

In den vergangenen Jahren hatten Tsunamis im Pazifik mehrfach Katastrophen ausgelöst - trotz Vorwarnung: Ob auf Tonga 2006, den Solomenen 2007 oder - in allen Fällen hatte die Übermittlung des Tsunamis-Alarms versagt. Entweder waren Kommunikationsleitungen ausgefallen, mangelte es an Messgeräten, kam die Warnung zu spät oder die Katastrophenpläne erwiesen sich als ungenügend. Selbst das australische Tsunami-Warnsystem stand schwer in der Kritik: Es arbeite konfus, beschwerten sich Wissenschaftler noch vor drei Jahren.

"Viel bessere Daten"

Tsunami-Katastrophe 2004

Dass die Kommunikation diesmal angeblich so gut funktionierte, führt Koltermann auf "erhebliche Verbesserungen in den letzten fünf Jahren" zurück. Seit der im Indischen Ozean war das Warnsystem im Pazifik massiv aufgerüstet worden. Hunderte von Warnbojen und Erdbebenmessstationen wurden zusätzlich installiert. "Wir verfügen nun über viel bessere Daten", sagt Koltermann. Die Uno entwickelte zudem Katastrophenpläne für die Behörden der Pazifik-Anrainerstaaten, sie organisierte Dutzende Alarmübungen.

Allerdings streitet die Uno nach wie vor mit den USA um die Hoheit der Tsunami-Daten. Bisher verbreiten zwei Warnzentren der USA - auf Hawaii und in Alaska - die Warnungen für den Pazifik. Als Fernsehsender unlängst die Tsunami-Warnung erläuterten, war auf entsprechenden Internetseiten der Uno kein Eintrag zum Thema zu finden. Von März an wolle man das Verfahren trotz der Bedenken der USA ändern, sagt Koltermann. Auch die Uno solle künftig über aktuelle Tsunami-Gefahren informieren dürfen.

Doch unterdessen werden erste Beschwerden über die Umsetzung der jüngsten Tsunami-Warnung laut; sogar auf Hawaii, das aufgrund seiner Erfahrung mit den Riesenwellen als einer der am besten vorbereiteten Orte der Welt gilt: Radiostationen seien nicht zu erreichen gewesen, Alarmsirenen hätten versagt, Straßen seien für Evakuierungen nicht frei gehalten worden, berichten lokale Medien. Wie die 29 Pazifikstaaten mit der Tsunami-Warnung im Einzelnen umgegangen sind, will die Uno in den kommenden vier Wochen genauer untersuchen.