Blogs: Die Hintertür der Naturwissenschaften

Forschertagebücher ergänzen Wissenschaftsjournalismus

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Bloggende Wissenschaftler werden nicht immer für voll genommen. In absehbarer Zeit könnte sich das ändern. Denn mit ihren Forschertagebüchern stellen Blogger die Wissensvermittlung vom Kopf auf die Füße. Sie zeigen, dass zur Wissenschaft der Wissenschaftsbetrieb gehört und zur Forschung die Kommunikation.

Wenn Gletscher schmelzen und Eisbären verenden, ist den Forschern der ETH-Zürich in der Schweiz, einer der besten Universitäten Europas, jedes publizistische Mittel recht: Um den Klimawandel zu bekämpfen, scheuen sie nicht einmal vor dem Bloggen zurück. Zur Autorengruppe des ETH-Klimablogs gehören rund 20 Professoren aus allen klimarelevanten Fachgebieten und Gäste. Darunter sind auch Forscher, die maßgeblich am Bericht des Weltklimarates IPCC mitgewirkt haben, aus dem hervorgeht, dass der Klimawandel vom Menschen gemacht ist. Eine Redaktion moderiert das Blog, um für eine ausgewogene Vielfalt der veröffentlichten Beiträge und Kommentare zu sorgen.

Durchbruch für Wissenschaftsblogs

Professoren hierzulande stehen diesem Weg der Wissensvermittlung, gelinde gesagt, distanziert gegenüber. Kein Wunder, kann das Containerformat Blog doch so ziemlich alles an Beiträgen aufnehmen, was denkbar ist: Berichte und Beichten, Protokolle und Pamphlete, Schilderungen und Schmähungen - ein Sammelsurium an Texten. "Das Bloggen wird an deutschen Hochschulen noch komplett ignoriert", sagt der 32-jährige Florian Freistetter, Astronom an der Universität Heidelberg. Blogs haftet der Ruch der Unwissenschaftlichkeit an.

Florian Freistetter

Ungeachtet dessen schwillt die Gemeinde der bloggenden Wissenschaftler an. Im Bundesgebiet gibt es derzeit rund 400 bloggende Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten, schätzt Marc Scheloske, Chefredakteur des Blogportals Scienceblogs.de. Obwohl das Portal erst seit zwei Jahren existiert, haben die 30 Blogger schon 6.500 Beiträge veröffentlicht. Die festen Redakteure des Blogportals werden von der Hubert Burda Verlagsgruppe bezahlt. Die Forscher, die Burda anheuert, haben hier die Gelegenheit, sich unredigiert und stilistisch frei über die Rolle der Wissenschaften in Politik, Wirtschaft, Kultur, Religion und Philosophie zu äußern. Allerdings bekommen sie dafür bestenfalls ein geringes Honorar.

"Im Jahr 2009 sind Wissenschaftsblogs aus ihrem Nischendasein herausgetreten", sagt Scheloske. Forscher gehen ihren Neigungen nach und schauen neugierig, was bloggende Kollegen anderer Fachrichtungen so von sich geben. Blogs helfen Journalisten dabei, neue Themen zu finden oder unterstützen sie bei der Recherche für ihre Zeitschriftenartikel. Sie sind schon wegen ihrer hohen Aktualität interessant. Wissenschaftliche Artikel brauchen Monate, bis sie ans Licht der Öffentlichkeit kommen. Blogbeiträge aus der Feder von Wissenschaftlern hingegen werden binnen Minuten ins Internet gepumpt.

Auch Florian Freistetter schreibt unter dem Dach von Scienceblogs.de. Er wurde im Jahr 2008 von der Redaktion des Blogportals dazu eingeladen. Das kam ihm gelegen, da er damals keine feste Stelle hatte. Und er wollte etwas Sinnvolles tun. Der promovierte Astronom forscht über Ordnung und Chaos von Planeten außerhalb unseres Sonnensystems. Dabei sucht er nach erdähnlichen Planeten. Sein Forschertagebuch ist ein Wegweiser durch das Reich der Sterne. Mit dem Bloggen, meint Freistetter, könnte man die Grundlagenforschung stärken, zu der auch die Astronomie gehört. "Die Grundlagenforschung hat keine Lobby", so der Forscher.

Einblick in Forschungsprozesse

Freistetter will den Menschen mit seinen Texten etwas zurückgeben: "Als Wissenschaftler sollte man nicht nur forschen, sondern auch Öffentlichkeitsarbeit machen, schließlich wird unsere Arbeit mit Steuergeldern finanziert." Die Reichweite seines Blogs ist beträchtlich. Mindestens 5.000 Besucher pro Tag lesen die Beiträge. Die Besucher hinterlassen im Durchschnitt 70 bis 100 Kommentare auf seinen Internetseiten. Ein bis zwei Stunden täglich bringt Freistetter auf, um sie zu beantworten. Etwa die Hälfte der Kommentare stammt von Mitbloggern, die andere Fachrichtungen vertreten. Es kommt zu einem interdisziplinären Gespräch.

Helmut Wicht

Helmut Wicht, 51 Jahre, ist Dozent für Neuroanatomie an der Goethe-Universität Frankfurt. Er untersucht Tierleiber, genauer die Nervenzellen von Lanzettfischen. Im Jahr 2007 hatte ihn ein Redakteur von Gehirn&Geist aufgefordert, unter das Dach des Portals "Scilogs - Tagebücher der Wissenschaft" zu schlüpfen. Das Portal wird als Europas größtes Portal für Wissenschaftsblogs gehandelt. Schon im Titel von Wichts Blog - "Anatomisches Allerlei" - wird deutlich, dass er die Grenzen überschreitet, die ihm seine Disziplin steckt.

Grenzgängerei zieht Besucher an

Warum bloggt der Neuroanatom überhaupt? Er will gelesen werden, klar. "Ich schreibe auch, weil sich die Transparenz der Wissenschaft nicht darin erschöpft, ihre Resultate verständlich zu machen." Er lässt Laien an seinem Forschungsprozess teilnehmen, gewährt ihnen einen Zutritt zur Hintertür des naturwissenschaftlichen Denkens. Dazu verlässt er zeitweise den Hochsitz der naturwissenschaftlichen Objektivität: "Ja, ich bin frei. Aber deswegen nicht nutzlos, ich lehre, ich forsche. Ich lebe dennoch in der Traumzeit, bin ein Aborigine, ein Eingeborener meiner akademischen Welt."

Beim ersten größeren Treffen von Wissenschaftsbloggern in Deutschland im Jahr 2008 wurde der Naturwissenschaftler für seine Grenzgängerei mit dem Scilogs-Preis für Wissenschaftsblogs ausgezeichnet. Begründung: "Wie kaum ein anderer Blogger schafft es Helmut Wicht in elegant-philosophischer Manier Einblicke in das Gedankengebäude eines Forschers zu geben."

Noch werden bloggende Wissenschaftler von Kollegen belächelt. In absehbarer Zeit könnte sich das ändern. Wenn Nachwuchswissenschaftler das Medium für sich entdecken. Und wenn sie Zeugnis davon ablegen, dass zur Wissenschaft der Wissenschaftsbetrieb gehört, genauso wie zum Geist das Gehirn und zur Natur das Klima.