Der Junge sieht sie nicht, obwohl sie doch direkt vor ihm steht. "Guck mal, was ich mache", sagt Ina Winter*. Sie klatscht in die Hände. Doch Johan hat nur Augen für seinen Regenschirm. Er läuft damit durch das Wohnzimmer. Immer hin und her. Und Ina Winter läuft neben ihm. Eine unsichtbare Wand trennt sie von ihrem dreijährigen Sohn, einem zarten Jungen mit dunklen Augen. Er spricht nicht mit ihr, er macht nicht, was sie will. Er ist da und doch unerreichbar.

Waldemar und Ina Winter haben die Szene mit der Kamera aufgenommen. Sie dokumentiert das Leben mit ihrem autistischen Kind – vor der Therapie. Wie hilflos sie damals doch waren! Ein neuer Film, ein paar Wochen später aufgenommen. Johan sitzt auf dem Kinderstuhl am Tisch. Er wirkt wie verwandelt. Seine Lippen formen die ersten Worte, mühsam zwar, aber immerhin. Er blickt seinen Vater an. Der benimmt sich merkwürdig. Er gibt seinem Sohn Kommandos. Hände auf den Tisch! Schau mich an! Er hält ihm Bildkarten vor das Gesicht. Und jedes Mal, wenn Johan sie richtig benannt hat, reißt der Vater übertrieben die Arme hoch und bricht in Jubel aus. Bei jeder richtigen Antwort bekommt der Junge einen Smartie oder einen Keks. So geht das eine ganze Weile. Fragen, Antworten, Jubel und zur Belohnung eine Süßigkeit.

Sprechen, jemanden ansehen, allein auf die Toilette gehen, Gefühle auf einem Gesicht erkennen: Was andere Kinder nebenbei lernen, muss Johan mühsam beigebracht werden. Das geschieht nach einer neuartigen Methode, die fast wie ein Hochleistungstraining aufgebaut ist: 30 Stunden pro Woche sitzt Johan auf seinem Kinderstuhl still, während die Erwachsenen sein Verhalten steuern, als sei er ein willenloses Wesen. Das entspricht dem Konzept der intensiven Verhaltenstherapie. Die Methode aus den USA bricht radikal mit hiesigen Grundsätzen: Hier propagieren die Therapeuten oft, dass die Eltern einfühlsam auf ihre autistischen Kinder eingehen sollen. Die Verhaltenstherapie hingegen setzt auf Strenge und Disziplin. Und sie verlangt den vollen Einsatz der Eltern: als Therapeuten und Trainer ihres Kindes.

Fünf Stunden am Tag haben die Winters im ersten halben Jahr zu Hause mit ihrem Sohn gearbeitet, drei Co-Trainer unterstützten sie dabei. Bis nach Mitternacht wertete die Mutter die Videoaufzeichnungen aus und bereitete alles für den nächsten Tag vor. Ein Vollzeitjob, ihre Arbeit in einem Marketingbüro musste sie aufgeben.

Ina Winter sitzt im Wohnraum ihrer Vierzimmerwohnung in Bremen. Auf dem Fensterbrett stehen zahlreiche Kästen mit Arbeitsmaterialien, die sie für die Therapie täglich braucht. In einem dicken Aktenordner hat sie alles akribisch notiert, jede Lerneinheit, jeden kleinsten Fortschritt. Diese Qualitätskontrolle ist wesentlicher Bestandteil der Therapie. Die 36-Jährige widmet sich mit wissenschaftlichem Ehrgeiz der Entwicklung ihres älteren Sohnes.

Angst vor der Zukunft

Vor zwei Jahren erhielten die Winters die Diagnose "frühkindlicher Autismus" für Johan. Ihr Kind habe eine tief greifende Entwicklungsstörung, die genetisch bedingt und unheilbar sei, hieß es. "Wir bekamen eine Riesenangst vor der Zukunft", sagt Ina Winter. Immerhin wussten sie und ihr Mann jetzt, warum der Junge so viel schrie, wenn er sich nicht gerade wegträumte. Draußen weigerte er sich, auch nur einen Schritt allein zu gehen, drinnen duldete er keine fremden Leute. Die Welt erschien ihm unüberschaubar, voller schrecklicher Überraschungen. Kein Wunder, dass er sich einigelte.

Zwischen 0,5 und einem Prozent aller Kinder sind Autisten, davon drei- bis sechsmal mehr Jungen als Mädchen. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl stark gestiegen. Womöglich deshalb, weil sich das Spektrum der Störungen erweitert hat, die als Ausprägung von Autismus verstanden werden. Wer früher nur als verschroben galt, zählt heute oft laut Definition zu den leichteren Fällen von Autismus. Es gibt Autisten, die nahezu pausenlos reden. Andere sprechen kein Wort. Es sind Mathegenies unter ihnen und solche, die als geistig behindert gelten. Manche neigen zu fremd- oder autoaggressivem Verhalten. Zwei Dinge aber sind allen Betroffenen gemein: Sie können nicht sozial angemessen kommunizieren, und ihnen fehlt die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.

Johan, so erfuhren seine Eltern, gehöre zu den schwereren Fällen. Im Sozialpädiatrischen Institut machte man ihnen wenig Hoffnung. "Da hieß es: Autismus ist nicht wegtherapierbar", erzählt Ina Winter. Das stimmt. Einerseits. Andererseits fand sie bei ihren Recherchen im Internet heraus, dass es Wege zu ihrem Kind gibt. Besonders die intensive Verhaltenstherapie schien erfolgreich zu sein. Mit ihrer Hilfe könne man Kinder aus ihrem autistischen Verhalten holen, jedenfalls wenn sie frühzeitig und möglichst rund um die Uhr gefördert würden, so das Versprechen. Es klang nach amerikanischem Alles-ist-machbar. Aber es vermittelte etwas, das Familie Winter damals besonders brauchte: Hoffnung.