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Interview mit US-Soziologe Sennett "Die Stasi war eine Organisation wie Google"

Google speichert immer mehr Daten seiner Nutzer - und wird so immer mächtiger. Doch das wahre Problem ist nicht der Suchmaschinenkonzern, sondern der Staat, sagt US-Soziologe Richard Sennett im SPIEGEL-ONLINE-Interview: Er profitiert am stärksten von der Sammelwut.
Google im Blick: "Die treibende Kraft hinter der Datensammelwut ist der Staat"

Google im Blick: "Die treibende Kraft hinter der Datensammelwut ist der Staat"

Foto: Chris Jackson/ Getty Images

Google

Internet

SPIEGEL ONLINE: Der -Geschäftsführer Eric Schmidt hat zum Thema Privatsphäre im gesagt: Wer nicht wolle, dass bekannt wird, was er tut, solle es besser gleich lassen. Eine Welt, in der alle alles von allen wissen - ist das nicht das Ende unserer Privatsphäre?

Sennett: Ich glaube, dass die Privatsphäre immer größer wird, weil die Leute gern Dinge öffentlich machen, die sie vorher für sich behalten haben. Das erleichtert es, noch mehr Daten anzuhäufen: Aber die treibende Kraft hinter der Datensammelwut ist nicht das Internet oder Google, sondern der Staat. Dahinter steckt eine neue Art von Regierungsmentalität. Dieser Staat übt Macht durch Partikularismus aus, in dem er so viel wie möglich über die Individuen weiß, die er regiert.

SPIEGEL ONLINE: Sie beziehen ihre Kritik auf die Politik, aber Google ist doch ein Wirtschaftsunternehmen, auf dessen Daten der Staat zumindest nicht unbeschränkt zugreifen kann.

Sennett: Beide wollen Daten. Google ist ein kapitalistisches Unternehmen, die Firma gibt es, weil man mit Partikularismus auch Geld verdienen kann, nämlich mit gezielter Werbung. Es geht darum, einen neuen Markt zu schaffen, eine neue Art, wie man etwas vermarktet. Aber: Die Technik ist nicht der Feind. Wer sich um die Privatsphäre sorgt, sollte sich um die Regierung Sorgen machen, nicht um Google. Wer sich wirklich um die ökonomische Ausbeutung von persönlichen Daten Sorgen macht, sollte sich mit dem Kapitalismus beschäftigen, nicht mit Google. Google ist das Werkzeug, nicht die Ursache.

SPIEGEL ONLINE: Wie funktioniert die Machtausübung durch genaues Wissen?

Sennett: Man sieht das am besten im historischen Vergleich - die britischen Parlamentarier im 18. Jahrhundert machten Gesetze, ohne die Leute zu kennen, die sie regierten. Der Staat war kein Datensammler und das Gesetz wurde nicht für Zielgruppen maßgeschneidert. Das gab den Menschen einen enormen Schutz der Privatheit.

SPIEGEL ONLINE: Aber es ist doch ein Vorteil, realitätsnahe Gesetze zu machen.

Sennett: Aber es ist natürlich auch ein Herrschaftsinstrument. Großbritannien weiß heute alles über die Zahl der Ausländer im Land. Heute gibt es Gesetze, die auf muslimische Jungs in der zweiten Einwanderergeneration zielen. Man weiß alles über sie, deshalb kann man es machen. Es war vor drei Jahrhunderten unmöglich, auf diese Art Macht auszuüben. Die Computertechnik ist dabei nur ein Mittel, um mehr und mehr Informationen zu bekommen. Die Idee sie für politische Zwecke zu nutzen, gibt es schon viel länger.

"Das Datensammeln ist den Mächtigen zur zweiten Natur geworden"

SPIEGEL ONLINE: Wohin führt das ihrer Ansicht nach?

Sennett: Es ist extrem gefährlich. Das Datensammeln in Politik und Wirtschaft ist den Mächtigen zur zweiten Natur geworden.

SPIEGEL ONLINE: Ein Beispiel bitte.

Sennett: Vielleicht eignet sich ein Vergleich mit der Stasi. Die Stasi war eine Organisation wie Google. Sie hat Unmengen Material über die DDR-Bürger gesammelt. Sie hat nicht gewusst, ob sie all das Material verwenden würde, aber das Sammeln wurde zum Ziel, bloß damit der Staat die Daten hatte. Das ist der Geist. Nicht nur bei Google, auch bei anderen Technologien. Man sammelt Informationen, weil vielleicht irgendjemand, irgendwie sie nutzen will. Deshalb gibt es diesen Datenüberfluss. Und die Idee dahinter ist immer Macht durch detailliertes Wissen über die Menschen.

SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet das für die Bürger?

Sennett: Die Staatsmacht lässt ihnen immer weniger Anonymität. Schon der politische Analytiker Michel Foucault hat gesagt, dass den Bürgern unter diesen Umständen nicht das Recht zugebilligt wird, dem Staat unbekannt zu sein.

Suchmaschinen

SPIEGEL ONLINE: Was die Leute so skeptisch macht, ist doch die Effizienz von Google. Selbst die Stasi hat niemals so viel über einzelne Menschen gewusst, wie heute Google. Wenn ich die E-Mail des Konzerns benutze, kennt er meinen Namen, er weiß, wem ich was schreibe, er weiß aufgrund meines Handys, wo ich mich aufhalte, er weiß anhand meiner Anfragen in sogar, was mir auf dem Herzen liegt. Das grenzt an Gedankenlesen, gläserner kann ein Mensch doch gar nicht sein.

Sennett: Stimmt. Und den Leuten ist all das nicht einmal bewusst.

SPIEGEL ONLINE: Aber es scheint Sie nicht besonders zu sorgen.

Sennett: Ich bin nur dagegen, dass man Google zu diesem riesigen, bösen Feind stilisiert. Diese Seite hat Google auch, ja. Aber, die andere Seite ist, dass die reine Menge an Information fast selbstzerstörerisch ist. Denken Sie daran, was bei dem versuchten Anschlag auf das US-Passagierflugzeug an Weihnachten passiert ist.

SPIEGEL ONLINE: Die US-Behörden hatten Informationen über den Täter, sie haben sie nur nicht zusammengebracht.

Sennett: Genau. Ab einem gewissen Punkt braucht man menschliches Urteilsvermögen, um aus Informationen sinnvolle Schlüsse zu ziehen und deshalb ist dieses Ereignis für mich eine Parabel von dem, was im Internet passiert.

SPIEGEL ONLINE: Es könnte allerdings sein, dass Google effizienter darin ist, Daten aufzubereiten, als die US-Regierung.

Sennett: Jeder wäre effizienter als die US-Regierung.

"Facebook ist die schlechte Seite der Entwicklung"

SPIEGEL ONLINE: Kann sich ein Internetnutzer gegen effizientes Ausschnüffeln schützen?

Sennett: Nun ja, er darf dann keine Suchmaschinen benutzen.

SPIEGEL ONLINE: Wie bitte? Nutzen Sie denn keine?

Sennett: Es gibt technische Wege, um die Informationen auf einem anonymen Weg zu bekommen, ohne dass man seine Wünsche einer Suchmaschine offenbaren muss. Leider habe ich nicht die technische Expertise zu erklären, wie das funktioniert.

SPIEGEL ONLINE: Das scheint keine besonders praktikable Lösung zu sein.

Sennett: Ich bin grundsätzlich optimistisch, was die zukünftige Nutzung des Internets angeht. In der Technikgeschichte gibt es immer eine Krise, wenn eine neue Maschine kommt. Denn die Maschine existiert, bevor die Menschen wissen, wie man sie gut nutzt. Mit den Computern geht es uns so, wie unseren Vorfahren in der Renaissance, die auf den gerade erfundenen doppelten Sextanten schauten. Mit dem kann man im Himmel navigieren, aber die Leute brauchten lange, um das herauszufinden. Als ich für mein Buch "Handwerk" recherchiert habe, lernte ich, dass der Schraubenzieher schon im 16. Jahrhundert erfunden war, aber keiner wusste, was damit zu tun war. Die Menschen benutzten ihn als Waffe oder als chirurgisches Instrument. Und so geht es uns mit dem Internet auch.

SPIEGEL ONLINE: Wie können wir diesen Lernprozess womöglich beschleunigen?

Web 2.0

Sennett: Gerade Google bemüht sich darum, die Zusammenarbeit von Leuten in geschlossenen Gruppen zu organisieren. Meine Forschungsgruppe nutzt GoogleWaves. Es ist eine Art Videokonferenz, aber zur selben Zeit wird alles transkribiert, was gesagt wird, alle schriftlichen Dinge werden gespeichert. Man kann damit stundenlang an kollektiven Projekten in verschiedenen Städten arbeiten. Wir hätten dieses Interview auf GoogleWave machen können. Das ist eine Evolution weg von der ausbeuterischen Nutzung, der Stasi-Phase der frühen Jahre. Das bietet viele Möglichkeiten der Interaktion - nicht nur das Teilen von Informationen.

SPIEGEL ONLINE: Sollten wir, um unsere Privatsphäre zu schützen, private Kommunikation im Netz weitgehend vermeiden?

Sennett: Nein, soziologisch gesehen wird das Netz unsere Zukunft sein. Per Maschine werden wir uns kennen und begegnen. Man muss die Gefahren verstehen, aber man muss auch verstehen, was die Maschinen-Kommunikation erst möglich macht, was im direkten Gegenüber nicht funktioniert hätte. Wir sollten auch nicht allzu hochnäsig gegenüber Facebook sein. Wenn man ein Teenager ist, schafft man dort seinen sozialen Raum. Das ist die Zukunft.

SPIEGEL ONLINE: Aber betreiben wir damit nicht selbst die völlige Auflösung unserer Privatsphäre?

Sennett: Die Grenze zwischen dem, was öffentlich ist und was privat, löst sich sowieso schon seit Jahrhunderten auf, unabhängig vom Internet. Die Idee, dass man sich in der Öffentlichkeit anders benehmen soll als zu Hause, ist für uns viel schwächer, als sie für unsere Vorfahren war. Bei Facebook nutzen die Menschen nur die technischen Möglichkeiten, um zu tun, was sie ohnehin tun würden: Sich mit anderen über sehr private Details aus ihrem Leben auszutauschen und daraus Gesprächsstoff zu machen. Auch hier: Das Internet hat das Problem nicht geschaffen, sondern der kulturelle Wandel.

SPIEGEL ONLINE: Woher kommt dieses Bedürfnis, sein Privatleben in aller Öffentlichkeit breitzutreten?

Sennett: Es hat damit zu tun, dass die Menschen die meisten alltäglichen Rituale nicht mehr kennen, die ihnen geholfen haben, sich mit Fremden wohl zu fühlen. In den Städten ist der öffentliche Raum verlorengegangen, an dem die Leute miteinander umgehen. Dasselbe gilt für das Internet. Was mich daran besonders interessiert: Der Kommunikation im Netz fehlen besonders viele Rituale. Wie vertraut man jemandem, den man nie sehen wird? Welches alltägliche Verhalten ist angemessen?

SPIEGEL ONLINE: Haben die Menschen auch irgendetwas durch den öffentlichen Seelen-Striptease gewonnen?

Sennett: Eine meiner Studentinnen hat über Chatrooms für Brustkrebspatientinnen geforscht. Diese Frauen offenbaren sich voreinander. Sie stellen ihre kompletten Krankenakten online. Das ist totaler Verlust der Privatsphäre, klar, Selbstentblößung, auch, aber zugleich fühlen sich diese Frauen stärker. Sie sind nicht gefangen in der privaten traditionellen Beziehung zwischen Doktor und Patient. Diese Frauen haben sogar Therapien gefunden, über die ihre Ärzte nichts wussten. Sie entblößten sich zwar, aber das hatte einen Sinn und ein Ziel.

SPIEGEL ONLINE: Und was machen Sie persönlich im Netz? Sind Sie ein Mitglied bei Facebook?

Sennett: Ich bin Mitglied von vielen Chatrooms, etwa einem über Linux-Programme, die Open-Source-Software. Aber Facebook? Nie und nimmer. Das ist wirklich die schlechte Seite der Entwicklung. Vielleicht bin ich zu alt. Ich schätze Takt, Diskretion, Privatsphäre, all diese Sachen.

Das Interview führte Cordula Meyer