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FC Bayern München "Welt"-Serie

Nach Phantomtor Morddrohung gegen Linienrichter

Thomas Helmers Phantomtor Thomas Helmers Phantomtor
Das Phantomtor: Thomas Helmer stochert am Pfosten rum, der Ball klar im Toraus. Doch der Linienrichter will ihn im Netz gesehen haben
Quelle: pa/Sven Simon/SVENSIMON
15. Teil der „Welt“-Serie: 1994 stocherte Bayern Münchens Thomas Helmer den Ball neben den Pfosten. Linienrichter Jörg Jablonski war sicher, dass es ein Treffer war. Das „Phantomtor“ war geboren.

Für den Schiedsrichter ist absolute Neutralität das oberste Gebot. Er ist dazu angehalten, unbeeinflusst, unvoreingenommen und gerecht zu entscheiden. Rudolf Kreitlein, WM-Schiedsrichter von 1966, hat das Credo des Unparteiischen einmal so definiert: "Er muss so unparteiisch sein, dass er sogar Spiele der eigenen Mannschaft leiten könnte."

Bei derart strengen Vorgaben gehört schon eine gehörige Portion Zivilcourage für das Bekenntnis des ehemaligen Bundesliga-Unparteiischen Jörg Jablonski. Er sagt: "Es gab ein Spiel, bei dem ich richtig parteiisch war.

April 1994: FC Bayern gegen Nürnberg

Es war am 23. April 1994 um 15.56 Uhr, als Linienrichter Jablonski beim Bundesligaspiel Bayern München gegen den 1. FC Nürnberg die Fahne hob, um Schiedsrichter Hans-Joachim Osmers ein Tor von Thomas Helmer zu signalisieren.

Osmers anerkannte, was nur sein Assistent draußen an der Seitenlinie gesehen hatte und entschied auf Tor. Damit war das "Phantomtor" geboren. Ein Begriff, der Eingang in die deutsche Sportsprache gefunden hat wie einst das Wembley-Tor aus dem Jahre 1966.

Nürnbergs Manfred Schwabl erinnert sich noch heute mit Grausen an die Szene und ihre Folgen: "Es gab eine Ecke für die Bayern, und ich postierte mich, wie abgesprochen, am ersten Pfosten. Die Flanke wurde ziemlich scharf getreten und im Strafraum auf den langen Pfosten verlängert. Dort stand Thomas Helmer, bewacht von Lubos Kubik. Irgendwie kam Helmer an den Ball. Ich blickte hinüber, sah Kubik am Boden, und auch unser Torwart Andi Köpke war bereits abgetaucht. Helmer stocherte den Ball am Tor vorbei, die Zuschauer stöhnten entnervt."

Während Schwabl den Ball zum Torabstoß zurechtlegte, brach plötzlich Jubel auf den Rängen aus. Der Schiedsrichter rannte Richtung Mittellinie, Helmer wurde von seinen Mitspielern gefeiert.

"Wir waren fassungslos"

Schwabl sagt: "Wir waren fassungslos. Alle rannten zu Osmers, um gegen die Fehlentscheidung zu protestieren. Er hätte doch schon an den Reaktionen der Zuschauer erkennen müssen, dass da nie und nimmer ein Tor gefallen war. Doch der Schiedsrichter vertraute seinem Linienrichter, der draußen Tor gewunken hatte."

Jörg Jablonski war sich seiner Sache ganz sicher. Er stand auf der Höhe der Eckfahne und sah die Szene so: "Helmer stocherte innerhalb des Tores nach dem Ball. Ich meinte, er habe die Linie überschritten, und deshalb gleich die Fahne gehoben. Den weiteren Verlauf des Balles konnte ich nicht mehr verfolgen, weil ich gleich zur Mittellinie gesprintet bin." Was er nicht sah: Die Kugel, von Helmer zuletzt mit der Hacke gespielt, bekam einen Drall und drehte sich im Bogen um den Pfosten herum ins Aus.

Osmers gab das Tor, hatte aber Zweifel. Bei Halbzeit auf dem Weg in die Kabine hakte er bei Jablonski nach: "Bist du wirklich sicher, dass der Ball drin war?" Der beruhigte ihn: "Du brauchst dir keine Gedanken machen, der Ball war eindeutig im Tor." Dagegen war der zweite Assistent Carsten Bianetzki überzeugt: "Der Ball ging vorbei."

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Er sollte recht behalten. Kaum war das Trio in der Kabine, sahen sie im Fernsehen, was wirklich Sache war: kein Tor. Alle waren wie vom Blitz getroffen. Besonders Jablonski machte sich große Vorwürfe. Nürnberg kämpfte gegen den Abstieg, und sein Fehler könnte am Ende ausschlaggebend sein.

"Ich war zum ersten Mal parteiisch"

Doch das Schicksal eröffnete ihm noch eine Chance. Beim Stande von 2:1 für die Bayern wurde Christian Wück im Strafraum von Helmer gefoult – Elfmeter für Nürnberg. Schwabl schnappte sich die Kugel. "Sergio Zarate, der immer die Elfmeter schoss, war in diesem Spiel nicht dabei. Da ich zuvor im Training alle Dinger versenkt hatte, fühlte ich mich sicher. Ich habe auf dem Feld keinen anderen gesehen, der schießen wollte", erinnert er sich.

Draußen an der Linie drückte Jablonski dem Schützen die Daumen: "In diesem Moment war ich zum ersten Mal in meiner Schiedsrichter-Karriere parteiisch. Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass Schwabl den Elfer rein macht."

Doch Bayern-Torwart Raimond Aumann wurde zum Spielverderber. Er hielt den Strafstoß und dem "Club" blieb keine andere Wahl, als Protest gegen das Spiel einzulegen. "Hätte ich verwandelt, hätten wir das nie im Leben gemacht. Ein Punkt in München wäre ein Traum gewesen", sagt Schwabl.

Das DFB-Sportgericht ordnete ein Wiederholungsspiel an, das die Bayern am 3. Mai mit 5:0 gewannen. Nürnberg musste den Weg in die zweite Liga antreten.

Jablonski resigniert nach einem Jahr

Schwabl ist heute Präsident des Drittligaklubs SpVgg Unterhaching. Auch mit dem Abstand von 18 Jahren macht er dem Linienrichter von damals keine Vorwürfe. Im Gegenteil: "Ich finde es toll, wie er heute damit umgeht und zugibt, dass er sich geirrt hat. Das ist doch nur allzu menschlich."

Für Osmers und Jablonski brachen nach dem Phantomtor schwere Zeiten an. Das Haus des Schiedsrichters in Bremen wurde nach Osmers Rückkehr aus München von Reportern belagert. Sogar die "Tagesthemen" berichteten. "Habe ich jemanden umgebracht?" fragte Osmers. Er pfiff noch ein Jahr Bundesliga, bevor er seine Karriere altersbedingt beenden musste.

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Berufssoldat Jablonski musste nach dem Fehler Anfeindungen aushalten, sogar Morddrohungen habe er damals bekommen. Er leitete noch einige Regionalligaspiele und resignierte nach einem Jahr. "Die Häme war so groß, dass ich aufhörte", sagt er.

"Alles ist nur ein Spiel"

Dem Schiedsrichterwesen ist er als Obmann im Kreis Bremen-Nord, DFB-Beobachter und Ansprechpartner für die Jungschiedsrichter erhalten geblieben. Einer davon ist sein 22-jähriger Sohn Sven, der es schon bis in die dritte Liga geschafft hat.

Die Zeit hat die Wunden geheilt. Jablonski hat seinen Fehler längst verarbeitet. Auch Schwabl trägt ihm nichts nach: "Fehler sind menschlich, und wir sollten alle kapieren, dass alles nur ein Spiel ist. Dass er gesteht, er habe beim Elfmeter für mich die Daumen gedrückt, finde ich sensationell."

Und Phantomtorschütze Thomas Helmer? Der ist mittlerweile Fernsehexperte und wird im Sport-1-"Doppelpass" an jedem Sonntag von Moderator Jörg Wontorra mit seinen vermeintlichen Torjägerqualitäten aufgezogen.

Hier finden Sie die bisherigen Teile der Serie:

Teil 1: Das erste Tor der Bundesliga-Geschichte war ungültig

Teil 2: Ein Fuchs als Lebensretter für Uli Hoeneß

Teil 3: Trapattoni wollte seine legendäre Wutrede fortsetzen

Teil 4: Wie ein Obsthändler den Bundesligaskandal aufdeckte

Teil 5: "Mensch, Wolf-Dieter, du bist ja total blau"

Teil 6: Als Kevin Keegan einmal Suzi Quatro ersetzte

Teil 7: Als Daum ein "absolut reines Gewissen" hatte

Teil 8: Der Karabinerhaken im Rücken des HSV-Verteidigers

Teil 9: "Skandal!" Als vier Ulmer vom Platz flogen

Teil 10: "Es ist zu Ende in Hamburg, Schalke ist Meister!"

Teil 11: Der berühmteste Tritt von Jürgen Klinsmann

Teil 12: Der verrückte Piplica und sein irrer Patzer

Teil 13: Brehmes bittere Tränen an Völlers Brust

Teil 14: "Hoyzer ist nichts anderes als ein Verbrecher"

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