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Intelligenz Die bedrohte Elite

Frank Schirrmacher und der Kulturpessimismus. Eine Gegenrede.
Besucher der Leipziger Games Convention: Ein Schulfach Interneterziehung heute dringend geboten

Besucher der Leipziger Games Convention: Ein Schulfach Interneterziehung heute dringend geboten

Foto: FABRIZIO BENSCH/ REUTERS

Frank Schirrmacher

Was mich angeht, so muss ich bekennen, dass ich den geistigen Anforderungen unserer Zeit nicht gewachsen bin. Und auch nie gewachsen war. Ich bin darüber hinaus der Meinung, dass es fast allen anderen Menschen ebenso geht. Nicht nur zu unserer Zeit, sondern zu allen Zeiten. Ich bin der Überzeugung, dass Überforderung - also das gebündelte Auftreten kaum lösbar erscheinender Probleme - die wichtigste Triebfeder des zivilisatorischen Fortschritts ist. Und zwar genau dann, wenn die Reaktion auf die Überforderung keine resignative ist, sondern eine konstruktive. Ich mache den Vorwurf, der notwendigen Debatte um die technologische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die digitale Gesellschaft den Stempel der Ablehnung und der Resignation aufgedrückt zu haben. Trotz seiner durchaus vorhandenen optimistischen Zwischentöne bleibt der Nachhall des Haderns mit der modernen Welt.

Diese Haltung scheint mir völlig unabhängig von den konkreten Problemen der jeweiligen Gegenwart. Zu allen Zeiten gaben Tempo und Ausmaß der gesellschaftlichen Veränderungen samt ihrer Auswirkungen auf die praktisch bereits verloren gegebene Jugend der vorhergehenden Generation Grund zur Klage. Das älteste mir bekannte Beispiel führt Platon in seinem "Phaidros"-Dialog aus. Dort lässt er Sokrates in bunten Geschichten aus dem alten Ägypten auf die schädliche Erfindung der Buchstaben schimpfen. Diese verhinderten, dass die Menschen überhaupt noch auswendig lernten. Mehr noch, Sokrates hält diejenigen für einfältig, die glauben, dass "aus Buchstaben etwas Deutliches und Zuverlässiges entstehen" könnte. Ich bin kein Experte im Erkennen von verborgener Ironie, aber ich könnte mir vorstellen, dass Platon hier die Klage über den Fortschritt der Kulturtechnologie ad absurdum führen wollte - vor bald 2400 Jahren.

Der Kern der Debatte ist der altbekannte Kulturpessimismus in antidigitalem Gewand, der durchaus eine interessante Funktion erfüllt. Es handelt sich um wärmende Heizdecken-Kommunikation von alten Männern für alte Männer, die sich gegenseitig bestätigen, dass früher alles besser war. Um nicht griesgrämig oder unmodern dazustehen, werden Teilaspekte gelobt, die kulturpessimistische Ablehnung der neuen Entwicklungen bleibt aber zentral.

In meinen Augen hat diese Ablehnung nachvollziehbare Gründe. Die intellektuelle Elite glaubte über viele Jahre, der Erfüllung eines zutiefst menschlichen Bedürfnisses immer näher zu kommen: dem Wunsch nach der Beherrschbarkeit der Welt, die uns umgibt. Dieser Wunsch gründet sich auf das Problem der Geworfenheit in die Welt, ist also zeitlos. Es spielt sogar kaum eine Rolle, ob es sich um bedrohliche Naturgewalten oder eine Ableitung daraus handelt, nämlich die den Menschen überfordernde Technik des Alltags, die zur Bewältigung der Natur überhaupt erst erfunden wurde. Diese Parallele hat Georg Simmel 1903 zu Beginn seines Aufsatzes "Die Großstädte und das Geistesleben" beschrieben: "Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren - die letzterreichte Umgestaltung des Kampfes mit der Natur, den der primitive Mensch um seine leibliche Existenz zu führen hat."

Simmel skizziert die von Schirrmacher formulierte Problematik mehr als 100 Jahre, bevor sie auftritt. Wir führen einen ständigen Kampf der Selbstbehauptung gegen die Instanz, die an die Stelle der Lebensbedrohung durch die Natur getreten ist: die von uns selbst geschaffene Riesenmaschine der Zivilisation. Wir kämpfen heute gegen die einhundertste Erscheinung des Säbelzahntigers, und zwar mit der einhundertsten Modellvariante des Speers.

Übersetzt ins Informationszeitalter heißt das, dass Schirrmachers alter Speer der neuen Version des Säbelzahntigers nicht mehr gewachsen ist - obwohl er doch früher so gut funktioniert hat. Aber ich bin der Überzeugung, dass die Beherrschbarkeit der eigenen Umwelt noch stets eine Illusion war, aufrechterhalten über einen kurzen Zeitraum; ein Trugbild, dem man offenbar umso lieber erliegt, je höher man in der gesellschaftlichen Hierarchie gelangt ist. Dort oben sind die Verschiebungen und Verwerfungen der Gesellschaft besonders deutlich zu spüren, nämlich in Form des Machtverlusts.

Einen Hinweis darauf, dass die herbeigesehnte Beherrschung schon immer eine Illusion war, liefert das gern reproduzierte, aber unsinnige Bild des sich uferlos vermehrenden Weltwissens, des inzwischen vollkommen unbeherrschbaren Datenwusts. Die Plakativität der Vorstellung von verschiedenen Datenträgern, die aufeinandergestapelt soundso oft zum Mond reichen, mag als medial vermittelte Metapher Eindruck machen. Sie nährt aber den Trugschluss, dass das Weltwissen zu irgendeinem Zeitpunkt fassbar gewesen wäre. Schon die Bibliothek von Alexandria - damals fast wie ein Google des Altertums berüchtigt als Datenstaubsauger, der im Hafen liegenden Schiffe deren Schriftrollen abnahm und sie mit eilig angefertigten Kopien abfertigte - bestand um 50 vor Christus aus rund 500.000 Schriftrollen. Bei einer durchschnittlichen Länge von acht Metern je Rolle ergäben sich 4000 Kilometer Textrollen. Bereits damals hätte man bei angenommenen fünf Minuten je Schriftrollenmeter und zwölf Lesestunden am Tag rund 75 Jahre gebraucht, um allein das in Alexandria aufgeschriebene Weltwissen zu lesen.

Der Berg des Wissens ist viel, viel höher geworden seit der Antike - unbesteigbar für den Einzelnen war er seit Beginn der Aufzeichnungen. Aus diesem Grunde brauchen wir, braucht die Gesellschaft schon immer Filtermechanismen. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war der allgemein anerkannte Filter, der vermittels der Massenmedien gesellschaftlich Relevantes von Irrelevantem schied, die Redaktion. Es handelt sich dabei um eine hierarchisch organisierte Struktur, die in einem kaum transparenten Prozess entscheidet, was die Öffentlichkeit zu interessieren hat. Redaktionen haben in der Vergangenheit unsere Wahrnehmung der Realität geprägt. Daraus ist für die unmittelbar Beteiligten oft genug der subjektive Anspruch der Deutungshoheit erwachsen, und in der Mediendemokratie schließlich eine Machtposition. Der Redakteur als Torwächter der massenmedialen Realität hat jedoch mit dem Internet im 21. Jahrhundert Konkurrenz bekommen, eine scheinbar technologische, tatsächlich aber eine soziale.

Es tut uns gut, von unserem hohen Ross herabzusteigen.

Im virtuellen Raum des Netzes herrschen andere Regeln als in der traditionellen Medienlandschaft. Eben noch wählte eine Redaktion aus, was ihr wichtig erschien; jetzt wird im Internet hochgespült, was ausreichend viele Menschen für interessant halten. Das redaktionsgetriebene Diktat der Relevanz wird ergänzt durch das Diktat der Interessantheit. Damit bedroht ein neuer Filter die Macht der Redaktionen. Mit dem uralten Instrument dieser Empfehlung wählt das Kollektiv im Netz aus, was es für interessant genug hält, um weiterverbreitet zu werden. Alle sozialen Netzwerke von Twitter über Facebook bis zur Gesamtheit der Weblogs basieren auf der Empfehlung: "Schau her, was ich hier Interessantes habe!" Kein Wunder, dass sich ein Journalist wie Schirrmacher stellvertretend für die Redaktionen bedroht fühlt vom Internet.

Das heißt aber nicht, dass die Redaktion überflüssig wird. Professioneller Journalismus scheint mir notwendiger denn je, selbst wenn derzeit noch nicht ganz klar ist, wie er im Internet refinanziert werden kann. Die Öffentlichkeit wird aber eben nicht mehr allein durch Journalisten geprägt, sondern auch über die technologischen Bande des Internets durch die Gemeinschaft bestimmt.

Der Redaktion steht hier nämlich das Kollektiv gegenüber, nicht die Maschine. Es ist ein grundsätzliches Missverständnis anzunehmen, dass eine Software wie der Algorithmus von Google auswählt, was wir wahrnehmen sollen. Google hat nur zuerst erkannt, dass letztlich keine Berechnung allein herausfinden kann, was für uns entscheidend ist. Das vermögen nur die Menschen selbst - und mit der richtigen Technologie kann man ihnen dieses Wissen entlocken. Google bestimmt heute das Netz wie kein anderes Unternehmen, weil seine Software von Anfang an versucht hat, das menschliche Denken nachzuvollziehen. Als höchstes Gut der Aufmerksamkeit sieht Google die Verlinkung einer Webseite durch einen Menschen an. Google führt sogar einen regelrechten Kampf gegen die automatisierte Relevanz der Maschinen; dem händisch erstellten Inhalt wird wesentlich mehr Beachtung geschenkt als robotergenerierten Inhalten. Ganze Abteilungen bekämpfen die maschinelle Manipulation der Auswahl, die Google uns präsentiert.

Es ist zwar ebenso wahr wie gefährlich, dass vielen Menschen nur noch als Realität erscheint, was unter den ersten zehn Google-Treffern zu finden ist. Das aber ist ein Problem der Medienkompetenz in der Gesellschaft und nebenbei einer der Gründe, weshalb ich ein Schulfach Interneterziehung fordere; Eltern können heute ihren Kindern viele notwendige Erkenntnisse nicht vermitteln, weil es das Internet noch nicht gab, als sie ihre gesellschaftliche Prägung und Ausbildung erfuhren.

Das Internet hat das Bewusstsein der jüngsten Generation erobert, und das auf andere Weise, als die Älteren es annehmen. Schirrmacher hat recht, wenn er die Tragweite der digitalen Vernetzung als gigantisch einschätzt. Ich halte die Auswirkungen auf die Gesellschaft und besonders auf die kommenden Generationen für so revolutionär, als wären Buchdruck, Telefon und Fernseher gleichzeitig erfunden worden. Der Kommunikationsfachmann Peter Figge erzählt die Anekdote seines zehnjährigen Sohnes, der ihn fragt, wie die Menschen ins Internet gekommen seien, bevor es Computer gab. Besser lässt sich das Verhältnis der Jugend von heute zum Netz kaum beschreiben. Das Internet wird empfunden als digitaler Teil der Realität, der nicht von der "Kohlenstoffwelt" abgelöst werden kann. Warum auch? So wesentlich die physische Begegnung uns erscheinen mag, so zahlreich sind die Beispiele dafür, dass selbst das bewegendste Gefühl des Menschen, die Liebe, eine Empfindung ist, die im Virtuellen wurzeln kann. Wer je in Audrey Hepburn verliebt war, ohne sie persönlich getroffen zu haben (also die meisten Menschen), könnte das bestätigen.

Die Klage über den Niedergang der Kultur durch das Internet und die gesellschaftlichen Begleiterscheinungen verkennt neben vielen anderen Punkten - etwa der Zugänglichkeit von Wissen - die unglaubliche Renaissance der Schriftkultur, die durch das Netz bei der Jugend stattgefunden hat. Wie viel hat ein durchschnittlicher 14-Jähriger in den achtziger Jahren außerhalb des schulischen Pflichtprogramms geschrieben? Und um wie viel mehr schreibt er heute in alle Ecken und Enden des Netzes hinein? Davon mag ja das meiste orthografisch und grammatisch schwer erträglicher Unsinn sein - aber schriftliche Kommunikation geht dem Jugendlichen 2009 wohl leichter von der Hand als 1989. Ein Schritt in die richtige Richtung, der Verbesserung der Bildung, auch wenn Platons Sokrates dagegen poltern würde.

Es bleibt die Kapitulation vor der Flut der Reize, die Schirrmacher beklagt, verbunden mit dem Gefühl, "aufgefressen zu werden". An dieser Stelle tut es uns, der digitalen Generation, vielleicht gut, von unserem hohen Ross herabzusteigen, jede Häme fahrenzulassen und auf die Bedürfnisse der Elterngeneration einzugehen. Die digitale Welt ist in der Tat noch viel zu kompliziert. Der Blick auf diese Realität ist uns Jüngeren verstellt, weil wir zeitgleich mit der Entwicklung der digitalen Welt sozialisiert wurden und sie deshalb als normal empfinden. Technischer Fortschritt kann aber nur dann gesellschaftlich positiv wirken, wenn er von der Mehrheit der Menschen als positiv empfunden wird. Das ist vor allem eine Frage der Bewältigung der Überforderung. Aus Schirrmachers Text spricht auch eine Verzweiflung, die weite Teile der Bevölkerung mehr oder weniger stark betrifft: die Angst, den Anschluss zu verlieren an den Lauf der Dinge. Ich glaube nicht, dass das sein muss, ich glaube an die Zivilgesellschaft, an die Kraft der Gemeinschaft und der gegenseitigen Unterstützung.

Gehen wir also in einem digitalen Marsch durch die Institutionen dorthin, wo die Überforderung jeden Tag stattfindet: in die Büros, in die Redaktionen, in die Parteien, zu unseren Eltern gewissermaßen, die vor ihren Bildschirmen sitzen und nicht weiterwissen und deshalb vielleicht Angst haben. Erklären wir ihnen, weshalb wir seltsame Fotos von uns ins Netz stellen und trotzdem erwarten, dass unsere zukünftigen Arbeitgeber nicht in diesen manchmal öffentlich zugänglichen, aber privaten Daten herumschnüffeln. Es würde ja auch niemand gern bei einer Firma arbeiten, die den Hausmüll eines Bewerbers durchwühlt, selbst wenn die Tonne vor der Tür steht. Erklären wir ihnen, dass die Gleichzeitigkeit oder das Multitasking bei uns in erster Linie die Wirkung von medialer Zerstreuung hat - die Generation vor uns hat eben nebenbei ferngesehen, unendliche viele Stunden am Tag. Erklären wir ihnen, dass der Unterschied zwischen der Veröffentlichung der eigenen Daten und der staatlichen Überwachung der gleiche ist wie der Unterschied zwischen "sich im Klo einschließen" und "im Klo eingeschlossen werden". Es geht um die Freiwilligkeit, also die Kontrolle über die Daten, zu denen andere Zugang erhalten.

Erklären wir den vordigital Geprägten, dass sie herzlich eingeladen sind, teilzuhaben am digitalen Leben. Denn dort spielt es wesentlich weniger eine Rolle, wo jemand ist, ob er schön oder hässlich ist, ob er behindert ist oder alt und ob er über kanadische Gletscher oder französische Lyrik des 19. Jahrhunderts kommunizieren möchte. Zeigen wir den Älteren, was für ein ungeheurer gesellschaftlicher Fortschritt dem Netz innewohnt - gerade durch die soziale Interaktion. Wie einsam mag sich ein 15-jähriger Schwuler in einem bayerischen Bergdorf noch vor zwanzig Jahren gefühlt haben? Um wie viel einfacher wurde ihm seine Entfaltung gemacht, einfach durch das elektronisch zugängliche Wissen, dass er mit seiner Andersartigkeit nicht allein ist?

Natürlich gibt es für diese positiven Entwicklungen einen Preis. Ich glaube, dieser Preis ist gut an der Machterosion der medialen Eliten zu messen. Durch die Transparenz und die Geschwindigkeit der digitalen Welt wird diesen Eliten schmerzlich bewusst, dass sie die Illusion der Beherrschung ihrer Welt nicht mehr aufrechterhalten können, was auch in der Ablehnung unserer Art der Lebensführung mündet. Oder wie es eine gewisse "Linajk" auf Twitter ausgedrückt hat: "Mein größtes Problem mit der jungen Generation ist, dass ich nicht mehr dazugehöre."

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