Zwischenruf: Angst vor den Muslimen ist dumm

Nach den Anschlägen von Paris führen viele Terror- und Islamkommentare in die Irre

Ein Polizist bewacht am Freitag die Große Moschee von Paris

Ein Polizist bewacht am Freitag die Große Moschee von Paris

Foto: Getty Images
Von: Michael Wolffsohn

Man kann es ja kaum noch ertragen: Jeder und alle verkünden landauf, landab und weltweit: „Terror und Islam“ beziehungsweise „Islamismus und Islam sind grundverschieden“. Prompt meldet sich die Gegengruppe der Fachleute zu Wort: „Doch, der Kern des Islam beinhaltet den Heiligen Krieg – und damit auch Terror.“

Je nach (Vor-)Urteil plappert das Volk der einen Gruppe das eine nach, das Volk der anderen das andere. Und so drehen wir uns im Kreis.

Dabei geht es gar nicht um das Wesen des Islam. Denn Fachleute, Gläubige ebenso wie Ungläubige können (und wollen) den Islam so, aber auch ganz genau anders, verstehen und (er)leben. Den Islam gibt es so wenig wie das Christentum oder das Judentum, die Muslime oder die Christen oder die Juden.

Jeder halbwegs informierte Mensch weiß, dass es bei Muslimen, wie in jeder Religion, Gläubige, Ungläubige, Gleichgültige, Militante und Friedliche gibt. Auch unter den Gläubigen und Ungläubigen gibt es sowohl Friedliche als auch Militante. Die genauen Anteile der jeweiligen Gruppen kann niemand beziffern.

Angst vor den Muslimen ist deshalb nicht nur unmoralisch, sie ist dumm.

Womit wir beim zweiten, folgenreicheren Denkfehler wären: In den meisten Köpfen schwirrt der Aberglaube, dass die (west)europäische, „abendländische“ von der nahöstlich-islamischen, „morgenländischen“ Welt zu trennen wäre.

Hier Okzident, dort Orient. So denken die meisten. Pustekuchen!

Schon vor- und frühgeschichtlich waren Orient und Okzident engstens miteinander verbunden. Die frühesten Menschen („Homo Sapiens“) stammen aus Ostafrika. Sie zogen vor rund 70 000 Jahren in den Orient und von dort, vor circa 45 000 Jahren nach Europa, zu unseren Vorfahren. Rein „rassisch“ sind also Orientalen „Menschen wie du und ich“.

Mehr als tausend Jahre vor dem Islam kam es zum machtpolitischen Hin und Her zwischen Morgenland und Abendland.

Nur einige Beispiele seien genannt:

► Die alten Perser versuchten vor knapp 2500 Jahren Griechenland zu erobern. Etwa 200 Jahre später eroberten Griechen unter Alexander dem Großen fast die ganze damals bekannte Welt. Auch den Orient. Dann ging es immer so weiter.

► Seit dem achten Jahrhundert unserer Zeitrechnung waren Spanien und Portugal islamisch beherrscht. 1492 wurden die Muslime endgültig von Christen besiegt und – mitsamt den Juden – aus Spanien vertrieben.

► Ab 1453 eroberte das Osmanische Reich weite Teile Europas und wurde ab 1683 vor Wien und bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend ganz aus dem Alten Kontinent zurückgeschlagen.

► Um 1800 begann das neue Hin und Her. „Der“ Westen, vor allem Frankreich und Großbritannien, eroberten den seit seit dem siebten und achten Jahrhundert unserer Zeitrechnung den islamischen Orient. Er wurde Teil ihrer Kolonialreiche. Nach dem Zweiten Weltkrieg, von 1945 bis 1962, wurden die meisten islamischen Staaten und auch das jüdische Israel unabhängige Staaten.

Die Unabhängigkeit der islamischen Staaten hatte weitreichende Folgen für die einstigen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien. Die nun freien Völker bekamen – aus welchen Gründen auch immer – ihre Wirtschaft nicht in den Griff. Die Folge: Millionenfach und freiwillig (!) strömten die einst Unterdrückten zu ihren einstigen Unterdrückern.

Hier waren sie als billige „Gastarbeiter“ beziehungsweise moderne, formal freie Sklaven zunächst willkommen. In Frankreich und Großbritannien bekamen sie sogar schnell die Staatsbürgerschaft. Der neue Pass war ein Stück Papier, ein Schein, kein neues Sein, kein wirkliches Dazu-Gehören – beiderseits.

Nicht aus Ex-Kolonien, aber der Arbeitsplätze wegen, kamen andere,  eben auch islamische „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Die Scheinlösung Staatsbürgerschaft ließ hier länger auf sich warten, änderte aber auch nicht viel am Grundproblem: Dem alles andere als problem- und harmlosen Übergang von ihrer alten zur neuen Welt.

Umgekehrt die Probleme der aufnehmenden Gesellschaften: Hier begegneten viele Alteingesessene den Neuen gegenüber mit Misstrauen.

Wie das mit Menschen halt so ist, Alt- und Neubürgern. Sie haben nicht nur einen Körper, sie haben auch einen Geist, eine Seele. Jede Seite muss sich an beides beim anderen gewöhnen. Das geht nicht von heute auf morgen. Es kommt einer Revolution gleich, alles wird ganz anders.

Viele Alt-Europäer erkennen ihre alte Welt nicht mehr, denn sie ist tatsächlich neu. Viele Neu-Europäer – meistens eben Muslime – kennen ihre neue Welt nicht. Ihre alte haben sie total verloren. Sie haben aber zu ihr, nicht zuletzt durch die Erzählungen ihrer Eltern und Freunde, seelische und politische Verbindungen – zu ihrer alten, islamischen Welt.

Die Islamische Welt ist seit 1945, erst recht jetzt, im Umbruch. Vielleicht auch im Zusammenbruch. Kein Stein steht dort auf dem anderen: Muslime gegen Muslime, Religiöse gegen Nichtreligiöse und so weiter.

Hinzu kommt der Konflikt (Krieg) der meisten islamisch-arabischen Staaten und des Iran gegen Israel, also Muslime gegen Juden.

Im Klartext: Längst ist Europa ein Nebenschauplatz der vielen Nahostkonflikte. Dort kämpft praktisch jeder gegen jeden.

Aus historischen und wirtschaftlichen Gründen sind die Bevölkerungen von Morgenland und Abendland, Nahost und Europa, unauflöslich, untrennbar, dauerhaft miteinander verflochten.

Egal, ob es einem gefällt oder nicht. Europa ist Nahost, denn Nahost ist in Europa.

Europa  erlebt, durchlebt, erleidet eine gesellschaftliche Revolution. Die Gesellschaft wird hier abendländisch plus morgenländisch, also auch zunehmend islamisch.

Nahost erlebt Revolutionskriege und diverse Revolutionen gleichzeitig: eine religiöse, gesellschaftliche, politische, inner- und zwischenstaatliche, kulturelle und wirtschaftliche Revolution.

Wer will da weiter nur noch über den Islam sprechen? Absurd.

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