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Wie die Piraten die Republik verändern wollen

Wahlkampf-Veranstaltung der Piratenpartei in Berlin Wahlkampf-Veranstaltung der Piratenpartei in Berlin
Wahlkampf-Veranstaltung der Piratenpartei in Berlin
Quelle: REUTERS
80 neue Beitritte verzeichnet die Piratenpartei täglich. Kurz vor der Wahl rechnen sie mit dem Einzug ins Parlament und entwerfen ein "Zukunftsministerium". Doch während die einen sie als Motor einer neuen außerparlamentarischen Opposition feiern, werfen Kritiker ihnen vor, sich naiv bis skrupellos zu verhalten.

Manchmal kann auch Florian Bischof den ganzen Trubel noch nicht glauben. Zum Beispiel, als er, der Berliner Spitzenkandidat der Piratenpartei, gerade an der Supermarktkasse stand und sein Handy klingelte. Die „New York Times“ war dran. Sie wollte mit ihm über diese neue Partei sprechen, die in Deutschland so viel Zuwachs hat. „Hätten andere Parteien auch nur wenige Monate früher Informationsfreiheit und Datenschutz im Internet ernst genommen, hätten wir niemals so viel Zuspruch bekommen“, sagt Bischof.

Noch im Januar zählte die Piratenpartei in Deutschland nicht mehr als 700 Mitglieder. Heute sind es mehr als 8000, laut Parteiangaben kommen täglich 80 neue Mitglieder dazu. Am Montag stellte sie in Berlin schon einmal vorsorglich ihren Entwurf für ein „Zukunftsministerium für die Wissens- und Informationsgesellschaft“ vor. Mit ihm soll unter anderem dafür gesorgt werden, dass sich die digitale Kluft in der Gesellschaft schließt und noch mehr Wissen kostenlos im Netz zur Verfügung gestellt wird.

„Viele junge Bürger fühlen sich von keiner der etablierten Parteien repräsentiert“, sagt der Parteienforscher Oskar Niedermayer von der FU Berlin über den Erfolg der erst vor drei Jahren gegründeten Piratenpartei. „Darum war die Parteiengründung notwendig, um die Möglichkeit der Repräsentation wieder zu schaffen.“

Zu Beginn des Millenniums konnte keine Rede davon sein, dass eine neue Partei notwendig sei, um politische Partizipation zu ermöglichen. Als sich rund 50 Nichtregierungsorganisationen zur deutschen Sektion des Globalisierungsgegners Attac zusammenschlossen, schien eine Generation ihren Ausdruck gefunden zu haben: ein zivilgesellschaftliches und internationales Bündnis.

Eine Studie der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie in Marburg belegt einen Trend zum Volksentscheid – gab es Mitte der Neunzigerjahre rund 100 Bürgerbegehren pro Jahr in Deutschland, waren es 2007 bereits 300. Auch der Volksprotest entlädt sich zunehmend im Internet. Die Online-Petition der Berlinerin Franziska Heine gegen die Sperrung von Internetseiten mit kinderpornografischen Inhalten erhielt im April mehr als 134.000 Stimmen und spülte sie an die Spitze der Datenschutzbewegung.

„Eigentlich muss ich mich heute nicht mehr aus dem Haus bewegen, um politisch aktiv zu sein“, sagt Politikwissenschaftler Christoph Bieber vom Zentrum für Medien und Interaktivität der Universität Gießen. Blogs, Foren, soziale Netzwerke, Online-Petitionen – im Internet gibt es viele Möglichkeiten, Verbündete zu suchen und seiner Meinung Gehör zur verschaffen. Warum also sind die Piraten überhaupt „offline“ gegangen und haben eine Partei gegründet? „Wer sich per Bürgerbegehren Gehör will verschaffen, muss sich mit sehr vielen Menschen auf einen Themenvorschlag konzentrieren, um eine Chance zu haben“, sagt Christian Engström. Nach dem überraschenden Erfolg mit 7,1 Prozent der Stimmen der schwedischen Piraten bei der Europawahl sitzt er als erster Abgeordneter der Piraten im Europaparlament. „Wir werden nur dann ernst genommen, wenn Politiker beginnen, um ihre Stimmen zu fürchten“, sagt Engström.

Vielleicht entspricht gerade das Format der Piratenpartei einer Generation, der der Sinn nicht nach Parteiideologie steht. Die Piraten organisieren sich – ähnlich einer Nichtregierungsorganisation – mit einem klaren thematischen Schwerpunkt und sind zugleich international organisiert. Sie erheben den Anspruch, sich nicht ins politische Spektrum einzuordnen. Und öffnen damit die Türen all jenen, die sich auch gegen die etablierten Parteien wenden wollen.

Als Motor einer neuen außerparlamentarischen Opposition (Apo) wird die Piratenpartei schon von einigen gefeiert. Kritiker werfen ihr hingegen vor, sich im Streben nach Profilierung naiv bis skrupellos zu verhalten. So nahm sie ohne Zögern den Ex-SPD-Parlamentarier und Internetexperten Jörg Tauss auf, gegen den ein Strafverfahren wegen des Besitzes von kinderpornografischem Material läuft. Dank Tauss ist die Piratenpartei im Parlament vertreten.

Dennoch: Das Tempo, mit dem sich die Partei als politische Kraft etabliert, beeindruckt selbst Experten. „Der Aufbau der Strukturen, wie die Partei sie innerhalb weniger Monate geschaffen hat, nötigt Respekt ab“, sagt Parteienforscher Niedermayer. Er zweifelt allerdings, ob sich die Piratenpartei als monothematische Partei halten kann. „Die Piratenpartei kann ausgehend von ihrem Kernthema ein breiteres Spektrum entwickeln“, sagt dagegen Politikwissenschaftler Bieber. Mit dem Internet sei nicht nur das Urheberrecht verbunden, sondern zunehmend auch bildungs-, sozial- und wirtschaftspolitische Themen.

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Ob sich die Piratenpartei etablieren kann, hängt auch davon ab, ob die etablierten Parteien ihre Glaubwürdigkeit beim Thema Netzpolitik zurückgewinnen könnten. Eine Emnid-Umfrage im Juli ergab, dass sich sechs Prozent der Deutschen vorstellen könnten, die Piraten zu wählen. Andererseits waren sie auch 58 Prozent der Befragten noch völlig unbekannt. Aktuell sehen die Institute Emnid und Forsa die Piratenpartei unter zwei Prozent. Die Piraten halten an ihrem Ziel fest, in den Bundestag einzuziehen. Nach dem Erfolg der schwedischen Partei halten die Piraten in Deutschland den Sprung über die Fünfprozenthürde für möglich. „Bereits die explizite Erwähnung in einer Wahlhochrechnung wäre für die Kleinpartei ein Erfolg“, sagt dazu Parteienforscher Niedermayer. „Selbst wenn wir es nicht in den Bundestag schaffen – Sicherheit und Freiheit im Netz werden in der Öffentlichkeit und von der Politik jetzt anders wahrgenommen“, sagte Bischof. Damit sei ein wesentliches Ziel bereits erreicht.

Mitarbeit: Miriam Hollstein

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