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Krise des Konservativen Wie ich aus Versehen ein Linker wurde

Sein Vater war CDU-Politiker, er selbst kiffte und lebte in einer Mao-WG - zum Linken aber wurde Matthias Matussek erst jetzt in der Krise. Denn die Konservativen führen seiner Ansicht nach einen Klassenkampf von oben: Sie zertrümmern Werte, heiligen Kaltschnäuzigkeit und öde Lifestyle-Spießerei.
Ackermann, Merkel: Da oben in der Kanzlerkapsel die Elite - da unten in der Nacht Hartz IV

Ackermann, Merkel: Da oben in der Kanzlerkapsel die Elite - da unten in der Nacht Hartz IV

Foto: Fritz Reiss/ AP

Ich bin nicht mit Müsli groß geworden und mit dem Zwang, Anti-Atom-Buttons zu tragen, das gleich vorweg, weil in diesen Tagen politische Bekenntnisse offenbar an persönliche Erzählungen geknüpft sind. Mein Vater war CDU-Bürgermeister. Es wurde viel gebetet bei uns. Wir lasen "gute Literatur". Wir waren konservativ.

Allerdings war ich ein unzuverlässiger Konservativer. Ich zog mit 16 in eine maoistische WG und kiffte, um die "Peking Rundschau" besser zu verstehen. Ich lebte im Chaos und fühlte mich ansonsten wie Werther: "Ich bin nun ganz eingeschifft auf der Woge der Welt - voll entschlossen: zu entdecken, gewinnen, streiten, scheitern, oder mich mit aller Ladung in die Luft zu sprengen." "Werther" war Belmondo mit den Dynamitgürteln aus Godards "Pierrot le fou" - dieser Goethe war meine Klassikerlektüre.

Irgendwann wird man erwachsen, gründet eine Familie und lernt. Irgendwann wird man wieder konservativ. Doch auch mein Konservativismus lebte von der Revolte. Er war brauchbar, wenn es um ideologische Barbareien wie den DDR-Kommunismus ging oder um Verblödungen wie den familienfeindlichen Feminismus oder die Pop-Schickeria oder die Deutschland-Neurosen der Linken. Kurz: Er war brauchbar als Systemkritik. Man kann auch den Konservativismus einsetzen, um die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Man muss in Bewegung bleiben.

Napalm in der Tasche

Aber ein echter Fleischerhundkonservativer war ich nie. Kissinger zum Beispiel. Ich hielt und halte Kissingers Chile-Politik für verbrecherisch, was ich ihm vor einiger Zeit bei einem Lunch auch gesagt habe. Nun ja, ich habe gesagt: "Das war wirklich nicht nötig, Mr. Secretary." Er hört nicht mehr gut und antwortete, dass er außer Pressearbeit nichts für Pinochet getan habe. Ich habe die Sache nicht weitergetrieben, da ich mir nicht sicher war, ob er nicht vielleicht doch Napalm in der Tasche hatte.

Ich hielt auch den Irak-Krieg für eine Katastrophe und die Geschäfte der Waffenlobby für eine Schweinerei. Und ja, ich glaube, dass wir uns um eine bessere Welt kümmern müssen, und zwar nicht durch Invasionen, sondern durch fairere Verteilung der Reichtümer und behutsameren Umgang mit der Natur. Natürlich sollten wir ökologisch denken, also grün, aber was denn sonst!

Das also wäre geklärt. Nun zum deutschen Wahlkampf, der die großen Themen bisher links liegenließ und abgesagt wurde, weil keiner hinging. Für die großen Parteien möglicherweise ein verhängnisvoller Irrtum, wie wir seit den Wahlen in Thüringen, dem Saarland und Sachsen wissen. Die Konservativen hatten bereits beschlossen, dass sie gewonnen haben, und schlenderten lässig dem Ziel entgegen, nicht ohne auf den letzten Metern dem linken Meinungskartell - wo ist das eigentlich? - noch ein paar Tritte zu verpassen. Pure Gewinnerroutine, Auflockerungsübungen, Scheingefechte.

Abwrackprämie oder ein Sack Maniok

Für die meisten Journalisten war die Lage überschaubar. Steinmeier ist abgemeldet, weil er nicht demagogisch genug ist. Lafontaine ist abgemeldet, weil er zu demagogisch ist. Die Grünen wollen zwar das Richtige, aber sie sind meist falsch angezogen, wenn man nur an die Winnetou-Kostüme von Claudia Roth denkt. Der einzige, der tatsächlich Opposition betreibt, ist Gregor Gysi, und der ist belastet.

Wir sehen all diese Gesichter auf den Plakaten, und wir sehen das "Wahlvolk" verdrossen und politikabgewandt und amüsierbereit durch die Innenstädte trotten. "Das Land wirkt wie in Zeitlupe, aber auch wie in einem Thriller", schreibt Claus Leggewie in seinem neuen Buch. Mit anderen Worten: Wir sind wie unter Wasser, und oben fegt ein Sturm. Wir ahnen, dass der gegenwärtigen Börsenerholung der nächste Crash folgen wird. Wir ahnen, dass wir für den Bail-out der Banken Schulden aufgenommen haben, die wir in Generationen nicht werden tilgen können. Wir wissen bereits jetzt, dass das Klima in den nächsten Jahren mehrere Points of no Return zum Schlechteren passieren wird. Aber wir sind gelähmt wie in einem Erstickungsanfall.

Die Abwrackprämie hat die Konsumenten einstweilen bei Laune gehalten. Mich erinnert das an die Wahlkämpfe, die ich in Peru oder Amazonien erlebt habe, wo den Hüttenbewohnern vor dem Urnengang ein Sack Maniok und ein paar Flaschen Milch vor die Tür gestellt wurden, was ökologisch immerhin noch sinnvoller ist als ein Opel Corsa. Doch die großen Umbauthemen finden nicht statt.

Stinkender Hering aus Schweden

Stattdessen erleben wir einen verspäteten Kulturkampf, in dem die bürgerliche Mitte die 68er ein weiteres Mal besiegt wie in einer ständigen Sedanfeier aus Alt- und Jungkonservativen. Das konservative juste milieu, das gerade die allerschwersten ökonomischen Panikattacken hinter sich hat, ist damit beschäftigt, sich auf die Schulter zu klopfen, mit geradezu unerträglicher Selbstzufriedenheit. Woher nimmt es die? Das Land hat sich verändert und ich mich auch. Ich bin mittlerweile, so ganz aus Versehen und vorerst in Ermangelung anderer Positionsbeschreibungen, links. Zunächst ist es ein ästhetischer Abwehrreflex.

Der konservativen Intelligenz ist die Welt ein süffisantes Glossenthema. Man sensibilisiert sich allmählich für ihren verkicherten Tonfall. Sie hält sich die Welt auf Armeslänge wie den stinkenden Hering aus Schweden, die "Surströmming"-Konserve, die man besser unter Wasser öffnet, wie uns die "Frankfurter Allgemeine" unter einem entsprechenden Foto auf einer Titelseite im August erklärt. Die Redaktion empfiehlt Kartoffeln und gehackte Zwiebeln dazu. Dann eine Schmockerei, über die Karl Kraus eine ganze Ausgabe der "Fackel" bestritten hätte: "Sonstige Spezialitäten mit üblem Nachgeschmack stehen auf Seite 2 (Afghanistan), Seite 3 (HRE), Seite 9 (Opel) und Seite 25 (Doping)." Üble Spezialitäten? Das ist Politik aus dem bürgerlichen Kochstudio, ein angewidertes Gestocher im Elend der Welt.

Dem Konservativismus, mit dem ich groß geworden bin, wäre über diese Blasiertheit der Kragen geplatzt. Er hatte mit der Bergpredigt zu tun. Er fand, dass uns das Elend der anderen angeht, dass Eigentum verpflichtet. Er hätte die gigantische Umverteilung der vergangenen zehn Jahre - den Rückgang der Reallöhne um 4 Prozent, die Steigerung der Unternehmensgewinne um 60 Prozent - als Skandal gesehen. Eigentlich muss Gregor Gysi nur diese Zahlen nennen und ansonsten den offiziellen Armutsbericht der Bundesregierung hoch- und runterbeten, und der Konservativismus, den ich kennengelernt habe, hätte ihm grimmig zugestimmt.

Entkernte Kanzlerin

Nicht nur er. Die letzte Enzyklika des Papstes, "Caritas in veritate", drehte sich um nichts anderes als um Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Sie beschwört im Übrigen die Gefahr, dass eine Wirtschaft ohne Verantwortungsethik sich selbst zerstören wird. Wir indes erleben, wie der konservative Klassenkampf von oben total geworden ist, ökonomisch genauso wie mental. Er hat Werte zertrümmert, radikaler, als es die Linke je vermocht hätte. Er hat ein kaltschnäuziges System geschaffen, das dem abgehängten Rest der Gesellschaft nach unten zuruft: Strengt euch gefälligst an.

Der Konservativismus, wie ich ihn kennengelernt habe, hätte sich nicht damit begnügt, den Armen Faulheit vorzuwerfen. Mein CDU-Vater, der das "C" sehr ernst nahm, hat die damals sogenannten Asozialen - sehr zum Leidwesen meiner Mutter - nach Hause eingeladen. Er hätte Solidarität gefordert. Dagegen entfuhr Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg jüngst der Satz, der mittlerweile emblematisch die psychosoziale Verdrängungsstrategie der Konservativen beschreibt: "Derjenige, der um sechs Uhr aufsteht, muss besser entlohnt werden als der, der sich um elf aus dem Bett quält." Jeder ist seines Glückes Schmied? Bullshit. Es gibt mittlerweile viele, die um sechs aufstehen und trotzdem nicht wissen, wie sie ihre Familie über die Runden bringen sollen, und Guttenberg und die ständig gutgelaunten Ackermanns und die konservative Elite, die die Kanzlerin zu sich einlud, wissen es.

Nichts gegen die Einladung der Kanzlerin, aber alles gegen diese Gästeliste und ihre Symbolik. Das Essen fand bereits im April vergangenen Jahres statt, doch es löste erst jetzt Empörung aus. In der kollektiven Imagination wirkt es wie eine vorweggenommene Siegesfeier des konservativen Milieus. Banker, Fabrikanten, konservative Journalisten und mittendrin eine von allen Überzeugungen entkernte Kanzlerin.

Pointe mit üblem Nachgeschmack

"FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher schrieb eine Glosse dazu unter dem Titel "Ich war dabei". Wer Schirrmacher kennt, weiß, dass er neben aller Brillanz ein übermütig-böses Kind sein kann. "Ich war dabei" ist eine Anspielung auf Schönhubers Bekenntnisbuch zur Waffen-SS. Das ist nun ganz sicher, um im Küchensprech der "FAZ" zu bleiben, "Surströmming", eine Pointe mit üblem Nebengeschmack. Für die publizistische "konservative Elite" wird alles da draußen, da unten zum Witz, besonders die Empörung des linken Gegners. Sie hält sich am liebsten im Schwebezustand der Ironie auf. Sie lacht die Ausgesperrten aus.

Ganz sicher geht es nicht um die drei Euro für die Kosten des Abends, sondern um das brechtsche Lehrstück, das darin enthalten war. Da oben traf sich im Licht der glänzenden Kanzlerkapsel die Elite, unten in der Berliner Nacht Hartz IV. Dazwischen keine Vermittlungen mehr, ein abgebrochener Funkkontakt. Die Tafelrunde im Kanzleramt spiegelte eine Gesellschaft aus den Fugen. "Ich glaube, die Politiker und die Journalisten verstehen gar nicht, was sich hier unten abspielt", sagte ein Anrufer in einer der letzten Plasberg-Sendungen.

Wie es aussieht, besonders seit den Wahlen in Thüringen, dem Saarland und Sachsen, sind die großen Volksparteien erschöpft. Die entscheidenden Stromstöße erhält der erschlaffte Herzmuskel der Republik derzeit von links und von rechts, von den Grünlinken auf der einen, und den Markt-Liberalen der FDP auf der anderen Seite.

Stärkung der Zivilgesellschaft

Doch es geht nicht nur um den Kampf gegen Armut. Die Vergötterung des Geldes hat uns auch seelisch verarmt. Unüberhörbar ist das Summen der Angst. Wir sind an einem historischen Scheitelpunkt angelangt und scheinen nicht mehr Herr der Lage zu sein. Das Vokabular geht uns aus. Wir reden an den Dingen vorbei. Wir leben mutlos. Wir leben in "Zeiten des Niedergangs". Ernst Jünger, der große konservative Einzelgänger, hat sie beschworen in seiner Erzählung "Auf den Marmorklippen", einer glühenden Mahnung am Vorabend der Nazi-Katastrophe: "Wenn wir in sie geraten, taumeln wir als Wesen, die des Gleichgewichts ermangeln, hin und her."

Wo es Widerstand geben sollte, kämpft jeder einstweilen taumelnd für sich gegen die Angst, nicht gebraucht zu werden, wahrscheinlich ist die noch intensiver als die Sorge ums tägliche Brot. Die Depressions- und Stresserkrankungen steigen und gleichzeitig das Gefühl ständiger Überforderung und zunehmender Sinnleere. Es geht nicht nur um den Klimawandel, sondern um einen grundlegenden Kulturwandel. Um den besonders. Auch wir, Angehörige der erfolgreichen, sozial integrierten Mittelschicht, sind, wenn wir nicht komplett abgestumpft sind, in eine Phase des fortwährenden Selbstgesprächs eingetreten. Wir sind auf der Suche nach einem Lebensthema, nach Selbsttranszendenz. Wie können wir einen Unterschied machen? Es wird Zeit, dass wir die Fenster aufstoßen im allgemeinen Geblödel, hin zu einer neuen Ernsthaftigkeit, zu Partizipationen, zu neuem Empowerment.

Die Konservativen bei uns haben keine Antwort darauf, im Gegensatz zu denen anderer Länder, wie der Politologe Franz Walter jüngst darlegte. In den Niederlanden wird der christlich durchwirkte Kommunitarismus wiederbelebt, in Großbritannien setzt sich Tory-Chef David Cameron programmatisch für "ethical capitalism" ein, für eine Stärkung der Zivilgesellschaft.

Öde Lifestyle-Spießerei

Nur bei uns ist der Konservativismus zu einer öden Lifestyle-Spießerei und verspäteten Abrechnungen mit dem linken Gegner von einst abgesunken. Doch dürfte selbst aus Sicht der Borchardt-Stammtische die CDU nicht besonders cool wirken, ihre Wähler rekrutiert sie noch mehr als andere Parteien aus Arbeitslosen und Rentnern - also aus jenen, über die sie sich sonst schieflachen.

Am zukunftsgewandtesten sind von allen wohl die Grünen, die ahnen, dass sich die sozialen Bewegungen von morgen nicht mehr über Parteien organisieren, noch nicht mal mehr über das ideologische Koordinatensystem links/rechts, sondern in einer neuen Apo. Sie verknüpft sich unterschwellig, in der Guerilla-Kommunikation des Internets, in Selbstentwürfen aus Facebook-Profilen, sie investiert in Fonds, die die Menschenrechte berücksichtigen, in Kooperativen wie dem nachhaltigen Stromerzeuger EWS in Schönau im Schwarzwald. Der Schock über 9/15, den Tag des Börsencrashs, sitzt tiefer als der über 9/11, denn er stellt das System in Frage.

Ein ganzer Schwung von Büchern kommt derzeit auf den Markt, die dem politischen Denken jene Dimension zurückzuerobern versuchen, die es in den Jahren des visionslosen Durchwurschtelns abgestreift hat: das utopische Moment, eine neue kritische Theorie, und über allen schwebt das Dringlichkeitsmotto aus Sloterdijks Bestseller "Du musst dein Leben ändern".

Keiner weiß im Moment, wohin die Reise geht. Fest steht nur eines: Wir müssen uns einschiffen wie Werther, entdecken, gewinnen, streiten, scheitern. "Oder mit aller Ladung in die Luft sprengen".

Es steht einiges auf dem Spiel, für uns und die Generationen nach uns.